21 Dez Verrückte Kopfsachen – Unser Besuch beim SOUL LALA Filmfest in Kiel
Junge Menschen haben in Kiel ein Filmfest zum Thema Psychische Erkrankungen auf die Beine gestellt. Das Motto: Verrückte Kopfsachen. Zu den vier Filmvorstellungen waren Schulklassen und ihre Lehrer eingeladen, um sich durch das Medium Film intensiver mit der seelischen Gesundheit auseinander zu setzen. Das besondere an „Verrückte Kopfsachen“: Im Anschluss an den Film stehen Expertinnen und Experten, die selbst schon Erfahrung mit seelischen Erkrankungen gemacht haben oder Menschen mit psychsichen Problemen betreuen, auf der Bühne und beantworten die Fragen der Schülerinnen und Schüler. Sie erzählen, wie realistisch die Filme Krankheitsbilder darstellen, wie es ist, mit einer Depression zu leben oder wie man helfen kann, wenn es einem Freund oder Familienmitglied schlecht geht. Wir waren bei der Vorstellung von vincent will meer dabei.
Über schwierige Themen kommt man oft am besten durch unterhaltsame Filme ins Gespräch. Die deutsche Komödie „vincent will meer“, in der drei junge Menschen mit seelischen Schwierigkeiten aus der Klinik aus- und zu einem wilden Road Trip nach Italien aufbrechen, ist so ein Film. Bei der SOUL LALA-Kinowoche in Kiel unter dem Motto „Verrückte Kopfsachen“ war er eins der Highlights des Programms. Die vier Vorführungen für Schulklassen mit anschließender Diskussion wurden von den Bewohnerinnen und Bezugsbetreuer*innen des Jungendwohnhauses in der Projensdorfer Straße geplant und durchgeführt. In dem Haus wohnen derzeit acht Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren, die aufgrund einer psychischen Erkrankung längere Zeit in klinischer Behandlung waren.
Als SOUL LALA-Kollegin Anja und ich am Vorabend in der Projensdorfer Straße in Kiel ankommen, platzen wir gerade in die Hausversammlung. Hier diskutieren die Mädchen und ihre Betreuer*innen, was am Vortag gut oder schlecht gelaufen ist, wer welche Aufgaben im Haushalt übernimmt, welche Freizeitaktivitäten anstehen. Und natürlich geht es um die Filmvorführung am kommenden Tag. Routiniert, strukturiert und ziemlich eigenverantwortlich wirken die jungen Frauen auf uns– und dabei ziemlich selbstbewusst. Ich merke, dass ich mir im Vorfeld des Besuchs unterbewusst ein anderes Bild von einer Wohngruppe für junge Menschen mit psychischen Problemen gemacht habe. Sind das nicht alles ganz normale junge Leute? Im Anschluss essen wir alle zusammen in der gemütliche Wohnküche zu Abend und kommen ins Gespräch kommen – auch über SOUL LALA, wo die Mädels Ideen für weitere Projektinhalte haben und uns auch ganz offen sagen, was man aus ihrer Sicht für Jugendliche auf Social Media machen und besser lassen sollte. Klare Worte von der Zielgruppe! Unter den Mädels ist auch Elena, die am nächsten Tag als „Erfahrungsexpertin“ den Schülerinnen und Schülern Rede und Antwort stehen will.
Über ein paar Ecken kommen wir dann auch auf das Thema „Psychiatrie“ zu sprechen. Und hier merken wir, dass die Mädchen doch einen ganz anderen Erfahrungshorizont als Gleichaltrige haben, als sie ziemlich abgebrüht über die verschiedenen psychiatrischen Stationen der Klinik, über Ärzte und Therapien sprechen. Nach und nach werden uns die unsichtbaren seelischen und zum Teil auch körperlichen Narben deutlich, die die Jugendlichen mit sich tragen. In der Wohngruppe bekommt das Leben für Sie eine neue Richtung. Hier lernen sie, außerhalb einer Klinik ihre Krankheit zu bewältigen und Alltags- und Sozialkompetenzen (wieder-)zu erlangen. Eins der Mädchen fasst es trocken und treffend zusammen: „Ja, ich war in der Psychiatrie. Aber dafür habe ich jetzt keine Zeit mehr, ich muss mich auf die Schule konzentrieren.“ Statt mit dem ÖPNV kommen Anja und ich an diesem Abend mit dem hauseigenen Kleintransporter – dem „Partybus“ – zurück. Betreuerin Annemarie sitzt am Steuer, wir auf den Beifahrersitzen und ein paar der Bewohnerinnen auf der Rückbank, dazu dröhnt „Herz an Herz“ von Blümchen und nicht ganz jugendfreier deutscher Rap aus den Boxen, zu dem die Mädels lauthals mitsingen. Also doch irgendwie ganz normal, oder?
Am nächsten Morgen wurde dann das Studio Filmtheater am Dreiecksplatz zum Klassenzimmer. Gemeinsam mit zwei Schulklassen und den Bewohnerinnen aus der Projensdorfer Straße schauen wir „vincent will meer“. In der Pause machen Anja und ich uns mit Kamera und Mikro auf um ein paar der Schüler zu interviewen. Zu unserer Überraschung sind antworten gerade die Jungs, die während des Films noch coole Sprüche durch den Saal riefen, sehr reflektiert auf unsere Fragen und man merkt Ihnen an, dass sie sich nicht zum ersten Mal mit dem Thema „Psychische Erkrankungen“ auseinandersetzen. Auch ihr Lehrer bestätigt mir im Gespräch: „Wir stellen fest, dass seelische Probleme bei den Schülern zunehmen und die Schulen oft damit überfordert sind. Zum Glück haben wir gute Kontakte zur Brücke Schleswig-Holstein als psychosozialen Träger – so kam auch der Kontakt für das Fimfest zustand.“ Im Saal steigt währenddessen das Lampenfieber, denn als nächsten steht die Diskussions- und Fragerunde auf dem Programm, moderiert von Betreuerin Annemarie.
Neben Bewohnerin Elena und den Bezugsbetreuenden Helle und Hannes steht auch Britta mit auf der Bühne, die selbst psychiatrie-erfahren ist und heute für die Brücke-SH tiergestützte Hilfen für psychisch erkrankte Menschen mit ihrem Hund anbietet. Die Schulklassen haben viele Fragen an die Erfahrungsexpertinnen und Profis, zu den im Film gezeigten Erkrankungen und vielem mehr. Wie realistisch sie den Film fanden, will eine Schülerin wissen. „Was in dem Film gut rüberkam: Patientinnen und Patienten können sich meist untereinander am besten helfen. So wichtig Ärzte, Therapeuten, Betreuer und Pfleger auch sind – unter Betroffenen ist einfach ein anderes Verständnis und der Zusammenhalt da“, sagt Britta.
Da die Fragenden häufig von „Patienten“ sprechen, findet es Hannes, die Rollen klar zu definieren: „Patient ist jemand, wenn er in der Klinik ist und dringende Hilfe von Fachärzten bekommt. Danach, z.B. in der Wohngruppe, ist man nicht mehr in der Rolle des Patienten, dann sind andere Formen der Unterstützung wichtig – im Alltag, im Wohnumfeld, in den persönlichen Beziehungen, in der Schule.“ Was in der psychiatrischen Klinik, die Elena erlebt hat, anders ist als im Film, fragt ein Schüler. „Es ist langweilig!“ antwortet Elena und der Saal lacht.
Doch dann wird es wieder ernster: „Wenn es für euch ok ist, könnt ihr sagen, wegen welchen Erkrankungen ihr in Behandlung wart?“ fragt eine Schülerin. Und für Elena und Britta ist es ok – Sie sprechen ganz offen über Ihre Erkrankungen und auch darüber, was Ihnen geholfen hat. „Bei mir waren es viele Therapien, die mir geholfen haben, eigene Verhaltensmuster zu erkennen und mir Wege aufgezeigt haben, mich zu stabilisieren. Und natürlich meine Hunde.“ Bei Elena war es auch die Wohngruppe nach der klinischen Therapie: „Man muss sich ein gutes und gesundheitsförderndes Umfeld schaffen. Dazu gehört es auch, knallhart Freunde auszusortieren, die sich nicht für die Schwierigkeiten interessieren, die man durchlebt.“
Man merkt der Elena an, dass es sie Überwindung kostet, so offen über Ihre Erkrankung zu sprechen. Gleichzeitig blüht sie aber auf – sie will sich mit ihrer Krankheitsgeschichte nicht verstecken, sondern offen damit umgehen und ist damit ein großartiges Vorbild für die Schülerinnen und Schüler. Es ist etwas anderes, nicht nur im Unterricht theoretisch über seelische Erkrankungen zu sprechen, sondern mit authentischen Erfahrungsexpertinnen wie Elena und Britta zu sprechen.
Elena gibt den Zuhörern noch wichtige Tipps mit auf den Weg: „Wenn ihr merkt, dass es Freunden oder Verwandten nicht gut geht, dann sprecht sie an, bietet Hilfe an.“ An diesem Punkt sind sich alle einig: man muss mehr über psychische Erkrankungen und Hilfen aufklären. „Deshalb ist es auch so wichtig, was ihr hier heute und Projekt macht“, sagt Britta gegen Ende der Fragerunde. „Wenn Freunde und Verwandte aufgeklärt sind, dann ist der Umgang mit dem Thema ein anderes. Ich bin mir sicher, dass ihr alle Menschen in eurem Umfeld kennt, die eine Erkrankung haben.“
Und so klärt sich dann auch die Frage nach „normal“ oder „nicht normal“ vom Vortag: Ja, es ist normal, dass junge Menschen in seelische Krisen geraten. Was oft noch nicht normal ist, aber überall zur Norm werden muss: Dass jungen Menschen aufgefangen werden, sich öffnen können und die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, damit sie Ihren Lebensweg mit Mut und Zuversicht gehen können und Erkrankungen positiv in ihre Biografie integrieren können. Wie das gehen kann, haben wir in Kiel gelernt.
So geht der Kinotag zu Ende und wir haben großartige Eindrücke von der Projektumsetzung von SOUL LALA in Kiel bekommen und viele spannende Bekanntschaften gemacht. Ein großes Dankeschön an Harald Möller und Annemarie Stengel für die Organisation des Projekts, an die Bewohnerinnen aus der Projensdorfer Straße, an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Diskussionsrunde und an alle, die an diesem Tag mitgeholfen haben! Wir freuen uns schon auf die nächste Runde SOUL LALA Kiel in 2019!
Text: Peter Heuchemer
Fotos: Anja Plonka