Vereinsamung – Was Einsamkeit aus Menschen macht

Vereinsamung – Was Einsamkeit aus Menschen macht

Einsam sein ist keine Krankheit. Doch immer mehr Menschen leiden unter (chronischer) Einsamkeit – und das, obwohl uns die Digitalisierung eine umfassende Vernetzung mit Millionen von Menschen ermöglicht.

Was Einsamkeit auf Dauer aus Menschen macht, zeigen mittlerweile viele Studien: Sich oft einsam zu fühlen, ist gefährlich für die körperliche & psychische Gesundheit. Und zwar so gefährlich, dass Wissenschaftler*innen Einsamkeit auf eine Stufe mit Armut, Adipositas oder Alkohol stellen.

Neurowissenschaftler wie Manfred Spitzer, einer der bedeutendsten Gehirnforscher Deutschlands, spricht sogar von einem Mega-Trend der Einsamkeit: schmerzhaft, ansteckend und tödlich.

 

Einsamkeit ist ein globales Problem

Vereinsamung ist kein Deutschland-Problem. Japan kämpft zum Beispiel seit den 1980er Jahren verzweifelt gegen das Kodokushi-Phänomen („einsamer Tod“): Menschen, die einsam & isoliert in ihren Wohnungen sterben und erst Wochen bzw. Monate später entdeckt werden. Auch England nimmt das Thema ernst und hat 2018 sogar ein Ministerium für Einsamkeit errichtet.

In Deutschland blickt man ebenfalls mit Sorge auf diese Entwicklung, immerhin befasst sich auch der Deutsche Bundestag mit Einsamkeit. Eine neue Auswertung für Deutschland (3) ergab, dass sich ca. 5-10 % der Bevölkerung sehr häufig einsam fühlen.

 

Einsamkeit ist keine Frage des Alters

Die meisten würden wohl denken, dass vor allem alte Menschen von Einsamkeit bedroht sind. Tatsächlich steigt das Einsamkeitsgefühl ab ca. 80 Jahren stark an, also sehr alte Menschen. Was verwundert ist die andere große Gruppe, die sich einsam fühlt: die 30-Jährigen.

Frauen & Männer im besten Alter sind also ebenso stark betroffen – egal ob erfolgreich im Beruf, in einer langjährigen Partnerschaft lebend oder allseits beliebt. Psychologieprofessorin Maike Luhmann nennt dieses Lebensalter auch die Rush-Hour des Lebens. Eine Phase, die von viel Erwartungsdruck & Veränderungen geprägt ist.

 

Definition: Einsamkeit

Was ist Einsamkeit?

Einsamkeit ist ein unfreiwilliger Zustand, in dem sich ein Mensch von anderen isoliert oder ausgeschlossen fühlt. In der Fachliteratur spricht man auch von „sozialem Schmerz“: Mangelnde Zugehörigkeit spielt hier eine große Rolle. Typische Gefühle von Einsamkeit sind Traurigkeit, innere Leere, Hilflosigkeit, Selbstmitleid, Verzweiflung und Sehnsucht.

Ausschlaggebend ist das subjektive Leiden: Wer einsam ist, fühlt sich von anderen getrennt oder empfindet die sozialen Beziehungen als negativ. Betroffenen fehlt es so an Wertschätzung, Zuneigung und Bestätigung durch Mitmenschen, wie sie jeder Mensch braucht.

Besonders gefährdet, chronische Einsamkeit zu entwickeln, sind laut Forschung:

  • junge Erwachsene,
  • Frauen,
  • Menschen mit niedrigem Einkommen oder Bildungsstand (Armut),
  • Arbeitslose
  • Personen in Single-Haushalten
  • Menschen in Städten

 

Unterschiede zwischen einsam & allein

Während Einsamkeit unfreiwillig geschieht und von negativen Gefühlen beherrscht ist, ist Alleinsein ein bewusst gewählter Zustand mit positiven Aspekten.

Das Alleinsein ist es, dem viele große Dichter & Denker eine innewohnende Kraft zusprechen. In der mittelalterlichen Mystik steht das Wort Einsamkeit für einen Gnadenstand, die als notwendige Bedingung für mystische Gotteserfahrungen galt.

Dazu brauchen wir uns nur die Etymologie des Wortes ansehen: einsam ist eine Kombination aus eins und gemeinsam. Die Bedeutung hat sich heute gewandelt: Einsamkeit meint eine schmerzliche Vereinzelung.

Der wesentliche Unterschied zwischen Alleinsein & Vereinsamung besteht m.E. in der Wahlmöglichkeit: Du kannst an einem Tag allein sein und Dich am nächsten Tag entscheiden, Dich mit Freunden oder Familie zu treffen. Wenn Du einsam bist, hast Du keine Wahl: Du bleibst sozial isoliert, obwohl Du das nicht willst.

 

Gesichter der Einsamkeit

Einsamkeit ist still. Sie bleibt oft unsichtbar. Und hat erschreckend viele Gesichter. In der Psychologie wird zwischen 3 Arten der Einsamkeit unterschieden:

  • Die emotionale Einsamkeit: Emotional einsam ist, wer keine engen Vertrauten oder Partner hat, mit denen man sich verbunden fühlt.
  • Die soziale Einsamkeit: Sozial vereinsamt sind diejenigen, die zu wenig soziale Beziehungen im Leben haben und keine Unterstützung durch Freunde, Nachbarn oder Kollegen erhalten.
  • Die kollektive Einsamkeit: kollektive Vereinsamung zeichnet sich durch ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl aus.

 

 

Die Abwärtsspirale der Einsamkeit

– psychische & körperliche Symptome einsamer Menschen

 

So schwierig Einsamkeit auch zu fassen ist, immerhin sind die gesundheitlichen Folgen von Einsamkeit gut belegt. Menschen, die sich lange Zeit einsam fühlen, laufen größere Gefahr, verschiedene Krankheiten auszubilden, wie Depressionen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen (4).

Warum Einsamkeit das Krankheitsrisiko erhöht, ist nicht immer klar. Doch teilweise lassen sich die gesundheitsschädlichen Folgen auf Einsamkeitssymptome wie Schlafstörungen und Bewegungsmangel zurückzuführen. Fest steht auch: Einsame Personen sind in einem dauerhaften Stresszustand. Und der führt zu vielfältigen Problemen.

Auch die kognitiven Auswirkungen schlagen sich schwer auf die Gesundheit nieder. Wer lange einsam ist, gerät oft in eine Abwärtsspirale, die sich aus negativen Gedankenmustern und Verhaltensweisen zusammensetzt:

·       Erhöhte Aufmerksamkeit in sozialen Interaktionen

Auf psychologischer Ebene zeigt sich Einsamkeit in einer erhöhten Aufmerksamkeit bei sozialen Begegnungen, die deutlich negativ geprägt ist. Im Klartext: Einsame Menschen nehmen Situationen häufig bedrohlich verzerrt wahr.

·       Abweisendes Verhalten gegenüber anderen

Die negativen Gedankenmuster schlagen sich in einem abweisenden und zurückhaltendem Verhalten nieder. Einsame Menschen treten daher oft unfreundlich und feindselig auf. Was dazu führt, dass sie noch mehr vereinsamen.

Die Abwärtsspirale der Einsamkeit lässt sich kaum durch eigene Kraft durchbrechen. Betroffene Menschen brauchen professionelle psychologische Hilfe, um sich aus dem Teufelskreis zu befreien.

Das Problem ist: einsame Menschen bleiben unsichtbar, wenn sie sich von anderen Menschen zurückziehen. Umso wichtiger ist es, auf bestimmte Merkmale zu achten und Einsamkeit zu erkennen.

 

Auswirkungen von Einsamkeit

Dauerhaft einsam zu sein, schlägt sich gewaltig auf die Psyche nieder. Das kann wohl jeder nachvollziehen. Was die Medizin aber lange Zeit unbeachtet ließ, sind die handfesten körperlichen Probleme, die Einsamkeit hervorruft.

Psychische Folgen der Einsamkeit

·       Erhöhtes Risiko für depressive Störungen, Angststörungen, Zwangsstörungen

·       Insuffizienz-Gefühle

·       schnelle Stressfrustration

·       Nervosität & Reizbarkeit

·       chronische Müdigkeit

·       Scham- und Schuldgefühle

·       Selbstmordgedanken

Körperliche Folgen der Einsamkeit

·       Erhöhter Cortisol-Spiegel (Stress-Pegel)

·       Bewegungsmangel

·       Schwächung des Immunsystems (erhöhte Infektanfälligkeit)

·       erhöhte Herzinfarkt-Gefahr

·       gesteigertes Demenz-Risiko

·       Schlaganfall-Gefährdung

·       erhöhtes Sterblichkeitsrisiko

·       Schlafprobleme

 

 

Ausblick: Was Einsamkeit aus Menschen macht

Experten fordern seit einiger Zeit eindringlich politische Anti-Einsamkeits-Kampagnen. Und das nicht von ungefähr. Einsamkeit entsteht nicht einfach so. Einsamkeit ist stark vom gesellschaftlichen Klima abhängig, wie eine neuere Untersuchung nahelegt (5).

Einsamkeitsforscher betonen, dass gerade in neoliberalen Gesellschaften, die auf freien Wettbewerb, Eigenverantwortung und Individualismus setzen, Gefühle von Zugehörigkeit, Unterstützung und Wertschätzung schwächer ausgeprägt sind. Stattdessen herrscht ein krasses Konkurrenzdenken, das Vereinsamung fördert und die psychische Gesundheit gefährdet.

Aber ist das wirklich so?

Es gibt keine validen Zahlen, die eine Zunahme an Vereinsamung belegen könnten, schon weil das Forschungsgebiet relativ jung ist. Außerdem steht dem gegenüber, dass Einsamkeit genauso wie Angst, Wut oder Trauer ein normales, menschliches Gefühl ist, das in allen Zeitepochen der Geschichte auftrat – nicht nur in der Moderne.

Philosophen und Soziologen betonen, wir sollten uns von der negativen Sicht auf die Einsamkeit lösen und sie wieder als das sehen, was sie ursprünglich ist: eine menschliche  Konstante.

Dr. Irvin Yalom, einer der bekanntesten Psychologen des Jahrhunderts und Vertreter der philosophischen Psychotherapie, sieht in der Einsamkeit eine existenzielle Isolation des Menschen, die in jedem angelegt ist. Wer diese Tatsache jedoch verdränge, erkranke an Neurosen & psychischen Störungen aller möglichen Formen (8). Von was Yalom hier allerdings spricht, ist im modernen Sprachgebrauch das schöpferische und erfüllende Alleinsein.

Die Subjektivität & Doppeldeutigkeit des Wortes Einsamkeit zeigen vor allem eines: Dass es an uns selbst liegt, wie wir Einsamkeit erleben.

 

 

 

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Quellen:

1) Michael Ziegler: Immer mehr Menschen sterben in Japan einen einsamen Tod (Sumikai – aktuelle Nachrichten aus Japan)

2) Maike Luhmann, Susanne Bücker: Einsamkeit und soziale Isolation im hohen Alter (RUB Studie Abschlussbericht)

3) Maike Luhmann: Einsamkeit – Erkennen, evaluieren und entschlossen entgegentreten. Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung am 19.04.2021 (Deutscher Bundestag-Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend)

4) R. Nathan Spreng et al: The default network of the human brain is associated with perceived social isolation (Studie 2020)

5) Julia C. Becker et.al.: Neoliberalism can reduce well-being by promoting a sense of social disconnection, competition, and loneliness (Studie 2021)

6) aerzteblatt.de: Politik muss Einsamkeit stärker in den Fokus nehmen

7) Schwabe Online Historisches Wörterbuch der Philosophie: Einsamkeit

8) Raphael Rauh: Einsamkeit: Alleinsein als Chance