31 Mrz Ungewöhnliche Therapiearten: Die Literaturtherapie
Es gibt Therapieformen, auf die würde niemand ohne weiteres kommen. Die Krankenkassen verraten uns jedenfalls nichts von ihrer Existenz. SOUL LALA will sich für euch darum in loser Folge mit den Exoten unter den Therapieangeboten beschäftigen und sie euch vorstellen. Denn es muss nicht immer die klassische Redekur sein, die eure erste Wahl darstellt, wenn es darum geht, seelisch wieder auf den Damm zu kommen. Und gerade beim steigenden Bedarf in Zeiten von Corona könnte die folgende Therapie eine gute Unterstützung sein.
Harry Potter als Gefährte unseres Selbstbewusstseins? Momo als treue Begleiterin unserer Ängste? Die Literaturtherapie bietet eine ungewöhnliche Weise, sich mit eingefleischten seelischen Problematiken und Störungsmustern auseinanderzusetzen. Allerdings ist sie kein geschützter therapeutischer Ansatz. Und wird auch nicht flächendeckend in Deutschland angeboten. Deshalb fiel es uns zunächst nicht leicht, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Aber ein wenig Rechercheanstrengung hat uns noch nie geschadet und siehe da, bald wurden wir doch fündig.
Unter Poesietherapie, Poesiepädagogik, freewriting (in der amerikanischen Schreibpädagogik), Bibliotherapie und anderen Schlagworten fanden wir schließlich eine lange Darstellung der Idee, mittels der selbstreflexiven Kraft des Schreibens kleinen bis großen Krisen auf die Spur zu kommen und eingemachte Störungsmuster in Heilung zu überführen. Wir fanden auch Therapeutinnen und Reha-Kliniken-, die die Literaturtherapie in ihren Programmen führen.
„Offen gesprochen habe ich mit dir niemals“
Diesen Satz hat einmal der berühmte Dichter Franz Kafka in einem Brief an seinen Vater geschrieben. Ein Brief, der heute zu den berühmtesten Briefen der Welt zählt (ja, auch Briefe können berühmt werden). Darin enthalten sind ungeheuerliche Sätze von Franz, der sein Leben lang eine unaussprechliche Angst vor seinem überstrengen, strafenden und verächtlichen Vater hatte. Sätze, die einem auch beim Lesen wehtun, weil man merkt, wie sehr Franz gelitten hat unter der Sprachlosigkeit seines Zuhauses. Weil er sich im „richtigen Leben“ jedoch nie getraute, das Wort gegen den Vater zu erheben, schrieb er jahrelang an diesem Brief. Aber auch den traute er sich nie abzugeben. Je länger er schrieb, umso klarer trat Franz die ganze riesenhafte Ungerechtigkeit, mit der sein Vater ihn Zeit seines Lebens bedacht hatte, vor sein inneres Auge. Am Ende wurde der Brief zu einer einzigen monströsen Anklage und Befreiung gleichermaßen.
„Vertrauensvolles Erzählen konnte Franz Kafka in seiner Familie nicht lernen. Während die väterliche Autorität als Sprachverbot wirkte, fehlten sowohl Mutter als auch den Schwestern häufig selbst die richtigen Worte.“ (Angela Thamm, 2007)
Geht es dir oftmals genauso? Hast auch du häufig das Gefühl, dass deine Gedanken, deine „innere Geschichte“ ohnehin niemanden interessiert? Dass man dir nicht zuhört, weil kein Interesse oder angeblich keine Zeit oder beides nicht vorhanden ist? Und dass dies nicht nur auf deine Eltern zutrifft sondern auch auf andere, Verwandte, Bekannte, Lehrer oder sogar Freunde?
Die Geschichte von Franz Kafka und seinem weltberühmten „Brief an den Vater“ ist nur ein Beispiel dafür, wie groß die Kraft des Schreibens für eine innere Befreiung sein kann. Keineswegs sollt ihr nun hingehen und eure Eltern mithilfe einer seitenlangen Tirade verantwortlich machen für alles, was in eurem Zuhause geschieht. Aber: Franz Kafka schrieb in seinem Tagebuch, dass sein Schreiben besser als jede Psychotherapie an den Ursachen seiner Neurosen rührte.
„Sich selbst POSITIV LESBAR werden“
Die Berliner Psychotherapeutin und promovierte Philosophin Angela Thamm ist eine deutsche Vorreiterin, wenn es darum geht, die Kraft des Schreibens integrativ in therapeutische Prozesse einzubinden. Sie entdeckte, dass ein deutscher Soziologe namens Alfred Lorenzer sich sehr für den Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und dem gesprochenen Wort interessierte.
Lorenzer betrachtete das in einer Therapiestunde Berichtete als eine Form der Literatur, als eine Erzählung des Menschen. Und die müsse entschlüsselt werden. „Es geht um den verborgenen Sinn eines literarischen Textes“
Angela Thamm hat jahrelang zu dem Thema geforscht und ihre Forschungsergebnisse schließlich zu einem wunderbaren Praxisangebot entwickelt, das sie in ihrer Berliner Praxis anbietet. Dabei gibt es verschiedene Ansätze, Menschen eine tiefere Auseinandersetzung mit ihren Problematiken, Krisen oder auch Ängsten anzubieten. Frau Thamm lässt Patienten etwa bereits bestehende Geschichten berühmter Autoren, von denen sie glaubt, dass sie zur konkreten Problematik passen, weiter erzählen. Oder sie lässt sie (Traum-)Tagebuch führen. Wichtig ist, dass grundsätzlich alles zu schreiben erlaubt ist. Die Texte werden dementsprechend auch ganz bewusst nicht auf eine fehlerhafte Rechtschreibung und Zeichensetzung hin überprüft oder gar korrigiert, denn – davon ist Angela Thamm überzeugt – „die poesiehafte Praxis kann nur angesichts des Ausschlusses jeglichen inneren Zensors gelingen.“
Schreib mir deine persönliche Gesundheitsgeschichte und wir reden darüber, wie sich deine Vorstellungen in die Tat umsetzen lassen können. So oder so ähnlich kann in der Praxis eine andere Form der Poesietherapie aussehen. Die Idee dahinter: Kreative Texte ermöglichen neue Zugänge zu verschütteten Ressourcen, eine Wiederbelebung von Resonanzfähigkeiten gegenüber dem eigenen aber auch anderen Leben. Empathisch (also mitfühlend) zu werden in eigener Richtung, das bedeutet nicht egoistisch zu sein. Es heißt vielmehr, darauf zu achten, was du wirklich fühlst in einem Moment innerer Achtsamkeit. Diese Achtsamkeit zu befördern, kann ein Blatt Papier und ein Stift in der Hand auf ungeahnte Weise helfen.
Selbst-Verständnis durch Selbstbefragung: WAS macht mich gesund?
Angela Thamm ist überzeugt: „Die Aufforderung zum kreativen Schreiben integriert manifestes und latentes Wissen … und beflügelt persönliche und soziale Lernprozesse.“ Übersetzt heißt das, dass du durch konkrete Schreibaufträge während einer Therapie einen nie dagewesenen Zugang zu deinen ohnehin immer auch vorhandenen Heilungskräften erhalten kannst.
Auch Sabine Restrepo Lucena ist eine Berliner Therapeutin und Literaturwissenschaftlerin, die in ihrer Praxis therapeutisches Schreiben anbietet. Ihrer Überzeugung nach stehen die verschiedenen Genres der Literatur ganz praktisch therapeutischen Zwecken zur Verfügung, um mit ihrer Hilfe bestimmte Fragen zu erörtern und so einer Lösung zuzuführen.
Auf ihrer Website hat Restrepo Lucena neun Genres herausgearbeitet, die neun lebensweltlichen Fragestellungen gegenüber stehen. Sie bezeichnet ihre Methodik der Schreibtherapie als „Techniken des Selbst-Bewusstseins“. Ihr geht es um die Erweckung diverser Ressourcen mittels verschiedener Stilmittel des Schreibens: Lyrik und Liebegedichte entsprechen dabei der heilenden Expression tiefer Emotionen („Eine Brücke zwischen „ich“ – „du“ und „dem anderen“); Satire als Stilmittel des Humors zur Distanzierung schwieriger bis traumatischer Lebenssituationen („Lächerlich: wie sich die Angst in Luft auflöst“); Tagebuch, Briefe, Dialoge und Geschichten nutzt sie zur Kontaktaufnahme mit dem verletzten inneren Kind („Ich nehme dich an die Hand und wir gehen zusammen unseren Weg“), um nur drei Beispiele zu nennen.
Sie selbst sagt dazu: „Tatsächlich führt die eigene Perspektivierung von traumatischen Erfahrungen unmittelbar hinaus aus Schmerz und verletzt sein. Schreiben ist … aktive Verarbeitung unter anderem von Verletzung, Verlust und Verzweiflung. Dadurch entsteht ein Gefühl von Ganzheit. Therapeutisches Schreiben in Form der Poesie- und Literaturtherapie stellt sich immer wieder als äußerst identitätsstützend und identitätsfördernd in der Therapie dar.“ Über das Schreiben als einer schöpferischen Kraft kommst du also – laut Frau Restrepo Lucena – auf besondere Weise in Kontakt mit deiner Intuition, die ein Wegweiser zu deiner Heilung ist.
WIE funktioniert die Literaturtherapie?
Egal, welches Genre du wählst, ob Fantasy, opulente historische Settings oder ein Traumtagebuch am Morgen, die Grundthese lautet: Schreiben bringt dich in Kontakt, in Resonanz mit dir selbst. Das einzige was du tun musst, ob es nun ein frei erfundener Text ist oder ob er direkt mit deinem Leben und Erleben in Zusammenhang steht: Du solltest ehrlich sein in der Darstellung der Gefühlswelten, wen immer diese Gefühle in deinen Texten betreffen. Denn am Ende geht es darum, sie in der Therapiestunde zu besprechen, um sie auf dich anzuwenden.
„Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich schreibe – Tagebuch schreibe. Das fühlt sich „richtig“ an. Ich weiß, dass ich allein bin, die einzige Leserin dessen, was ich hier schreibe – aber dieses Wissen ist nicht quälend, im Gegenteil: ich fühle mich dadurch stärker, fühle mich jedes Mal stärker, wenn ich etwas aufschreibe.“ So formulierte es einmal die amerikanische Publizistin Susan Sontag.
Wenn du nach dieser kleinen Einführung in die Poesie-Therapie entdeckst, dass das genau dein Ding sein könnte und dich weiter informieren möchtest, sprich gern die Menschen an, die wir unten verlinkt haben. Die Literatur- oder Poesie-Therapie wird in Deutschland noch nicht wirklich flächendeckend angeboten, was sehr schade ist. Dennoch lohnt es sich immer, wenn du deinen/deine Therapeuten/Therapeutin fragst, ob er/sie sich vorstellen kann, mit dir für einige Therapiestunden auf diese Weise zusammen zu arbeiten.
Und wenn du nicht selbst schreiben willst, so kannst du auch auf andere Weise die Poesietherapie für dich nutzen: Auch das Aussuchen und Lesen von Texten zu deinen Lieblingsthemen kann helfen – ob alleine oder als Grundlage für folgende Gespräche mit deinem Therapeuten oder deiner Therapeutin.
Quellen und Links zum Weiterlesen:
- Alfred Lorenzer (Hrsg.): Kultur-Analysen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1986.
- Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980. Hanser Verlag, 2013.
- Homepage von Angela Thamm (Berliner Psychotherapeutin und Sprach-Spiele-Forscherin): https://spiel-und-sprache.de/index.php/literaturtherapie-91.html
- Homepage von Sabine Restrepo Lucena (Berliner Heilpraktikerin für Psychotherapie und Literaturwissenschaftlerin M.A.): http://www.wandlungspraxis.de/kreatives-schreiben.html
Foto: Andreas Richartz