02 Nov Recovery und Gruppenleitung: Ein persönliches Abschlussgespräch (Teil 2)
Katharina und Anna* kennen sich durch ihr Studium im pädagogischen/ sozialen Bereich und haben bis vor kurzem eine Recovery-Gruppe in einer Berliner Beratungsstelle geleitet.
Recovery kam in den 1990ern in den USA auf und beruht auf dem festen Willen von engagierten Psychiatrie-Erfahrenen, sich gegen das Stigma von chronischer Erkrankung und deren Unheilbarkeit zu stemmen. Recovery bedeutet, wieder Hoffnung zu haben. Mit dieser positiven inneren Haltung ist es möglich, die Selbstheilungskräfte anzuregen und aktiv Einfluss auf die Gestaltung des eigenen Lebens zu nehmen.
Anna und ihre Arbeit im Bereich Recovery wurden schon vor einem Jahr in diesem Artikel vorgestellt. In den letzten 18 Monaten leitete sie die Gruppe gemeinsam mit Katharina – bedingt durch die Corona-Pandemie zeitweise online oder in einem großen Garten. In einem Gespräch reflektieren sie den gemeinsamen Prozess und resümieren, was ihnen die Recovery-Gruppe bedeutet, wie sie es empfanden, zu moderieren und tauschen sich über das Thema „eigene Betroffenheit“ aus.
(Fortsetzung von Teil 1)
Als Nicht-Betroffene über seelische Krisen sprechen
Katharina: Aber nochmal zurück zum Anfang und wie es für mich damals war mit der Moderation. Also ich fand das Konzept anfangs ja echt spannend und gut und ich hatte auch Lust, so eine Gruppe zu leiten. Aber ich war mir auch von Anfang an total unsicher. Ich habe mich gefragt, ob das so gut ist, wenn ich in die Moderation einsteige, wenn ich selbst keine Psychiatrieerfahrung habe und auch nicht so große Krisenerfahrung. Gleichzeitig fand ich aber auch sehr interessant, überhaupt zu merken, dass diese Frage so ein großes Unbehagen in mir auslöst. Eigentlich kann man sich ja sagen, okay, man kann ja die Gruppe mitleiten, warum auch nicht.
Anna: Aber weißt du noch, was das genau war, was ich dir über die Gruppe erzählt hatte, dass du dachtest, es wäre schlecht, keine eigene Krisen- und Psychiatrieerfahrung zu haben? Also wo kam der Gedanke überhaupt her? Hattest du dazu was gelesen? Oder hatte ich das mal so gesagt?
Katharina: Ich glaube, in diesen inneren Konflikt bin ich zum einen durch das gekommen, was ich über Recovery gelesen habe, dass das Konzept aus der Selbsthilfe kommt, und auch durch die Moderation an sich. Ich fand das eigentlich voll gut, als ich selbst mit meinen Erfahrungen da zu sein und nicht nur als ein Mensch in einer professionellen Rolle. Und dann dachte ich aber auch schnell: ‚Hm, sind meine Erfahrungen jetzt überhaupt relevant in dem Kontext und macht das jetzt überhaupt Sinn von denen auszugehen?‘ Ich fand aber eben auch irgendwie spannend, dass ich da so krasse Bedenken hatte, weil das ja schon auch mit dieser Trennung zu tun hat, die es sonst oft gibt. Also, dass es eben zum einen Safe Spaces gibt – also Selbsthilferäume und dann den ganz klar professionalisierten Bereich, wo klar ist, das sind Angebote von „Profis“, wo zwischen betroffenen Nutzer*innen und Professionellen ganz klar getrennt wird. Und das Konzept der Gruppe hat mich irgendwie verunsichert, weil es sowas ganz anderes war, als das, was ich bisher kannte.
Anna: Und wie denkst du jetzt darüber?
Katharina: Immer noch schwankend. Also ich finde auf jeden Fall super gut, so zu arbeiten. Ich finde es sinnvoll, in der Sozialen Arbeit auch viel von mir selbst als Person auszugehen und eigene Erfahrungen einzubringen, wenn es passt und erwünscht ist. Und ich finde, dass man das auch in anderen Bereichen mehr so handhaben sollte. Jetzt speziell in Bezug auf die Gruppe bin ich mir nicht sicher. Ich hab´s total gerne gemacht, denke aber immer noch, dass auch schön wäre, wenn die Moderation von Menschen getragen wird, die sich als selbst betroffen verstehen. Also wenn es gerade jemanden gibt, der Lust und Kapazität hat.
Anna: Ich bin mir ja auch immer ein wenig unsicher mit dem Begriff der Betroffenheit. Wo setzt man überhaupt an, um zu sagen: Ich bin betroffen und ich bin es nicht? In unserer Zusammenarbeit hatten wir das ja so gehandhabt, dass es schlussendlich eine Eigendefinition ist. Es kann aber natürlich auch problematisch sein, wenn stark unterschiedliche Erlebenszustände und Erlebnisse unter der einen Überschrift ‚Betroffenheit‘ gefasst werden. Dann besteht das Risiko, dass dadurch bestimmte Erfahrungen unsichtbar gemacht werden. Ich selbst habe mich in der Gruppe als „selbst betroffen“ vorgestellt, weil ich eigene Erfahrungen mit der Psychiatrie und mit Therapie habe und demnach auch mit Phasen, in denen es mir sehr schlecht ging. Somit kenne ich aus eigener Erfahrung wie es ist, Hilfe zu brauchen, um Krisen zu überwinden. Dadurch hat es sich für mich okay angefühlt, mich selbst als Betroffen zu bezeichnen. Aber ich habe auch Phasen und Momente, in denen ich denke, vielleicht habe ich gar nicht genug Erfahrung, vielleicht waren meine Krisen gar nicht schlimm genug und das ist natürlich auch irgendwie problematisch, Krisenerleben auf so eine Art zu bewerten. Aber gleichzeitig gibt’s halt einfach Menschen, die z.B. viel schlimmere Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben. Und dann denke ich auch manchmal, dass ich dann auch manchen Menschen den Raum wegnehme, weil ich in der Moderation bin und nicht jemand anderes. Aber vielleicht ist auch einfach wichtig, dass wir uns zugestehen, die Gruppe anzuleiten, genau mit dem, was wir mitbringen. Und was jetzt in Bezug auf meine Moderationspartnerin das Entscheidende für mich ist, ist weniger die Betroffenheit der anderen Person, sondern mir ist wichtig, die Gruppenleitung mit einer Person zu machen, der ich vertraue. Dabei finde ich die Haltung der anderen Person entscheidend. Also eine achtsame, sensible Haltung, eine Haltung, die es zulässt, sowohl sich selbst, als auch gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen und der Wille, eigene Bilder und Vorurteile beständig zu reflektieren. Das heißt aber nicht, dass ich denke, es ist überhaupt nicht wichtig, dass Menschen, die eigene Krisen- und Psychiatrieerfahrung haben, die Gruppe anleiten. Wenn dieser Anspruch verloren ginge, fände ich das sehr schade. Nicht nur wegen der spezifischen Erfahrungen, die als Ressource eingebracht werden können, sondern auch wegen der Vorbildfunktion. Wir haben ja die Erfahrung gemacht, dass es Teilnehmer*innen Hoffnung geben kann zu sehen, dass eine Person Krisenerfahrung hat, offen mit diesen Erfahrungen umgeht und trotzdem eine Gruppe moderiert. Und dass sich das halt überhaupt nicht ausschließt, sondern dass genau diese Erfahrung in dem Kontext total wertvoll sein kann.
Katharina: Ja voll, das kann halt die Trennung im Sinne von: ‚Das ist jetzt die Person, die die Gruppe leitet und das ist die Person, die betroffen ist und die Gruppe besucht‘ aufweichen und zeigen, dass das nicht so feste, starr voneinander getrennte Rollen sind. Der Wunsch nach Unterstützung oder Hilfe kann so eher als etwas Situatives, nicht Starres gedacht werden. Mal bin ich in der Position, Hilfe zu brauchen, mal bin ich in der Situation, andere zu unterstützen.
Anna: Dabei finde ich es jetzt erstmal nicht unbedingt hinderlich, wenn sich nur eine Person als selbst betroffen definiert.
Katharina: Ja, voll, ich hatte da halt einfach Angst, Erfahrungen vorzuspiegeln, die ich nicht habe und dass Teilnehmer*innen davon ausgehen, dass ich selbst betroffen bin.
Anna: Wir haben uns ja auch oft darüber unterhalten, dass es ja sehr cool sein kann, sowas vor der Gruppe zu thematisieren, also vor den Teilnehmer*innen offen über die eigenen Gedanken zum Themen (Nicht-)Betroffenheit zu sprechen. Man kann ja darüber sprechen, wie es den Teilnehmer*innen damit geht und welche Bilder mit dem Thema Betroffenheit und Nicht-Betroffenheit verknüpft sind und was es für sie persönlich bedeutet. Ich glaube, viele Menschen, die sich Hilfe suchen, haben ja auch erstmal das Gefühl ‚okay, vielleicht sind meine Probleme gar nicht groß genug um Hilfe in Anspruch zu nehmen und vielleicht nehme ich dadurch jemandem etwas weg‘ oder ‚ist das jetzt überhaupt okay, dass ich in eine Psychiatrie gehe, es gibt doch so viele Menschen, denen geht es schlechter‘. Das ist zwar eine andere Art der Verunsicherung, aber die Frage dahinter ist ähnlich: „Darf ich eigentlich hier sein? Nehme ich jemandem etwas weg?“ Also man kann auf Grundlage der eigenen Verunsicherung ja den Raum eröffnen, um über solche Themen zu sprechen.
Katharina: Ja, und es kann überhaupt erstmal das Gespräch eröffnen für die Frage, was Betroffenheit bedeutet und welche unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen damit verbunden sind.
Anna: Ich denke, als Mensch mit psychischen Problemen neigt man manchmal dazu davon auszugehen: ‚Okay, die ist jetzt gesund, der gehts gut, die kennt sowas ja gar nicht‘. Und gerade wenn man als gesund und stabil wahrgenommen wird, hat man die Möglichkeit aufzuzeigen, dass einem manche Erfahrungen eben doch nicht komplett fremd sind, wenn auch vielleicht in ganz anderem Ausmaß oder in anderen Kontexten. Und ich glaube, dieses offene Miteinander, dieser Austausch darüber, kann auch sehr empowernd sein, aber man muss natürlich aufpassen, nicht alle Erfahrungen in einen Topf zu schmeißen und Leid dadurch zu negieren. Das geht ja sonst schnell in die Richtung ‚jeder hat mal einen schlechten Tag‘. Ich als Mensch mit eigenen Krisen kann zumindest sagen, dass ich total heilsam fand zu merken, dass auch Menschen, die ich oberflächlich betrachtet als total stabil wahrnehme, eben doch auch Unsicherheiten kennen und dass das innere Erleben zwischen anderen Menschen und mir vielleicht oft gar nicht so weit auseinanderklafft, wie ich manchmal denke. Aber was für uns ja auch in dem Kontext immer wichtig war, ist, anzuerkennen, dass grade auch die Position als Hilfesuchende im psychiatrischen System zu sein, auch nochmal eine spezielle Erfahrung ist, die man halt entweder gemacht hat oder eben auch nicht und die ja auch oft mit Ohnmachtserleben einhergeht.
Katharina: Ja voll. Das anzuerkennen finde ich auch sehr wichtig. Und dass ich als Person ohne eigene Psychiatrieerfahrung die Gruppe mitgeleitet habe, bedeutet für mich nicht, das in irgendeiner Form negieren zu wollen. Ich denke, es kann trotz sehr unterschiedlicher Erfahrungen sinnvoll sein, sich auf einer anderen Ebene zu begegnen und auszutauschen als es in anderen Settings üblich ist. Und es gibt ja auch immer Themen, zu denen man dann vielleicht doch wieder sehr ähnliche Erfahrungen gemacht hat.
Recovery, Selbsthilfe, eigene Erfahrungen
Anna: Ja und ich finde, das ist auch so ein wesentlicher Aspekt von Recovery, so wie ich es verstehe. Also dass ich Recovery als etwas begreife, was nicht so ganz klar strukturiert ist – von wegen man muss so und so sein um die Gruppe zu leiten – sondern es geht genau um diesen Prozess zwischen den Menschen, die die Gruppe moderieren und die die Gruppe besuchen. Es kommen Fragen auf, man spricht über Unsicherheiten und man setzt sich selbst immer wieder ins Verhältnis zur Gruppe. Wir hatten uns ja auch mal kurz mit der Frage beschäftigt, ob wir die Recovery-Gruppe als Selbsthilfegruppe verstehen. Und zumindest ich bin da ja auch durch den Austausch mit Menschen, die in der Selbsthilfe aktiv sind, eher zu dem Ergebnis gekommen, grade auch wegen der starken Vorstrukturierung der Gruppensitzung und dem Aspekt, dass wir auch bezahlt werden, dass sich die Recovery-Gruppe nochmal von Selbsthilfe, wie sie sonst häufig praktiziert und definiert wird, unterscheidet. Also dass wir in der Moderation dann doch eine gewisse Machtposition haben, dadurch, dass wir den Rahmen auch stark bestimmen und gestalten. Zwar mit dem Versuch sehr offen zu sein…
Katharina: …und dem Angebot, dass auch Teilnehmer*innen mitgestalten können. Aber ja, also klar, es war für uns auch voll der schöne und interessante Austausch, der voll bereichernd war, aber das ist ja trotzdem so, dass wir in dem Moment grade nicht als Teilnehmende dahin kommen, sondern dass wir die Gruppe eben schon anleiten. Das ist ja schon anders als in den meisten Selbsthilfegruppen.
Anna: Aber trotzdem haben wir auch viel von uns reingegeben, was schon anders ist als in vielen anderen Gruppen, die ich so im psychosozialen Bereich kenne. Wir haben was reingegeben und darauf gab es Resonanz. Dadurch konnte ich auch viel mehr mitnehmen, als hätte ich jetzt wirklich immer nur moderiert ohne etwas von mir einzubringen. Und in Bezug darauf hatten wir ja schon oft das Gefühl, dass es auch für die Dynamik der Gruppe sehr schön war, wenn wir Eigenes geteilt haben und dass wir dann den Eindruck hatten, dass es für die Teilnehmer*innen auch nochmal einfacher ist, sich selbst zu öffnen und eigene Erfahrungen einzubringen.
Katharina: Und da hatten wir ja auch den Eindruck, dass es auch okay ist, wenn man mit Themen ganz unterschiedliche Dinge verbindet und ganz unterschiedliche Erfahrungen einbringt. Aber, dass es das leichter macht, ins Gespräch zu kommen, wenn eigene Erfahrungen eingebracht werden, auch wenn sich diese stark unterscheiden können
Anna: Aber für mich war auch wichtig, eine gewisse Sicherheit in dem zu haben, was ich erzähle. Wenn ich jetzt gerade voll das große Thema mit irgendwas habe, würde ich gegenüber der Gruppe zwar offen sagen, dass es mir grade nicht gut geht, aber ich würde das Thema dann nicht vor der Gruppe ausbreiten. Dann hätte ich die Sorge, ein Stück weit die Kontrolle zu verlieren, also in dem Sinne, dass ich mich verheddere und es mir dann selbst nicht mehr gut damit geht. Also ich finde wichtig, in der Rolle der Moderation auch ein Stück weit kontrolliert zu sein, in dem Sinne dass ich weiß, was ich gerade warum erzähle.
Katharina: Ja genau, das ist dann ja nochmal anders als wenn man Teilnehmer*in ist.
Anna: Insgesamt denke ich, dass sehr sinnvoll sein kann, eigene Erfahrungen in psychosoziale Arbeit einzubeziehen, wobei das auch auf die Rahmenbedingungen ankommt. In einem Format wie jetzt in der Gruppe, wo man sich nur einmal wöchentlich sieht, ist der Rahmen ja recht klar, da fand ich unproblematisch viel von mir zu erzählen und viel von mir zu zeigen. Wenn ich jetzt aber einen Menschen recht lange und intensiv begleite, der vielleicht auch grade in einer Krise ist, finde ich für mich nochmal wichtiger, sehr achtsam in Bezug auf meine Grenzen und die Grenzen des Gegenübers zu sein und ich würde es dann vielleicht auch in manchen Situationen anders handhaben, grade wenn die andere Person auch in einer gewissen Abhängigkeit zu mir steht, weil ich z.B. für behördliche Angelegenheiten oder so zuständig bin. Dann muss man die entstehenden Dynamiken sehr achtsam im Blick haben und darauf achten, dass da keine schwierigen Verstrickungen entstehen. Aber ein gewisses Risiko gibt es schlussendlich immer, wenn man eng mit Menschen zusammenarbeitet. Aber so insgesamt in Bezug auf Nähe und Distanz finde ich manchmal, dass die Distanz zu stark überbetont wird und da vielleicht auch das Risiko besteht, dass man Soziale Arbeit dann nur noch als Dienstleistung versteht. Aber um nochmal auf das einzugehen, worüber wir vorhin gesprochen haben: ich glaube, oft werden Unterschiede zwischen Menschen zu stark betont und da finde ich, wie du auch schon gesagt hast, schön, Betroffenheit oder Hilfsbedürftigkeit vor allem als etwas Situatives zu verstehen, also dass man davon wegkommt zu denken, das ist jetzt immer nur der Betroffene, und das ist jetzt immer die Helferin und dass man das ganze mehr in Zuständen und Nuancen denkt.
Katharina: Ja, ich denke, das ist ein schönes Fazit.
Katharinas und Annas Perspektive auf Recovery-Gruppen ist eine Perspektive unter vielen anderen. Im letzten Jahr ist im Rahmen eines Forschungsprojektes eine Broschüre zum Thema Recovery entstanden, in der unterschiedliche Haltungen und Gruppenkonzepte portraitiert werden. [Link zur Broschüre]
*Namen von der Redaktion geändert