07 Mrz Pathologisierung & Medikalisierung – Die kranke Gesellschaft?
Bei Fieber oder Schnupfen gehen wir zum Arzt. Völlig klar! Aber wie ist das bei psychischen Problemen: ist Psychotherapie sinnvoll, wenn wir nach 3 Monaten nicht über eine Trennung hinweg sind? Brauchen wir psychologische Unterstützung bei Schüchternheit? Oder wenn wir gerade um jemand Verstorbenen trauern?
Die Fragen sind gar nicht so banal, wie sie scheinen. Denn heutzutage wird zwar mehr über Mental Health und psychische Probleme in der Öffentlichkeit gesprochen – zu Recht! – gleichzeitig fällt auf, dass eine Pathologisierung von normalen Befindlichkeiten stattfindet. Mit weitreichenden Folgen für den Einzelnen & unsere Gesellschaft.
„Wir dürfen nicht alle Menschen mit Problemen zu Patienten machen“ (W. Schneider)
Alles, was mit Negativität (egal in welcher Form) verbunden ist, wird von vielen Menschen nicht mehr als natürliche, vorübergehende Gegebenheit angesehen, sondern als eindimensionales, therapiebedürftiges Defizit, das es zu bekämpfen gilt.
Übrigens keine Entwicklung neuester Zeit: 1980 erregte ein Fachartikel über „Healthism“ Aufsehen, welcher auf die Ausweitung & Überbewertung des Gesundheitsdenkens auf alle Lebensbereiche aufmerksam machte (4).
Und über 30 Jahre später warnte die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (1) erneut davor, jede Schwierigkeit oder persönliche Krise als psychische Krankheit zu deuten.
Ein psychisches Leiden mit Krankheitswert ist gegeben „wenn psychische Funktionen und die soziale Teilhabe wesentlich beeinträchtigt sind und die betroffene Person darunter leidet. In diesem Sinn ist nicht jede Lebenskrise eine Erkrankung – auch wenn sie sich zum Beispiel psychotherapeutisch gut behandeln ließe (…) Wir müssen bei der Diskussion des Krankheitsbegriffs in Psychiatrie und Psychotherapie vermeiden, dass harmlosere Befindlichkeitsstörungen und gesellschaftliche Probleme sowie normale Alterungsprozesse pathologisiert werden“ (Andreas Heinz von der DGPPN).
Aufsehen erregte auch der amerikanische Psychiater Allen Francis, der mit einer Buchveröffentlichung 2013 die Inflation psychiatrischer Diagnosen kritisierte (5). Seiner Meinung nach würde vor allem natürliche Trauer bei Verlusterfahrungen zu oft als klinische Depression missverstanden.
Beispiele für die Pathologisierung
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Halten wir Negatives nicht mehr aus?
Die Hintergründe für diese Entwicklung sehen viele Experten in unserem Gesellschafts- und Arbeitsleben: Wir leben in einer dynamischen, von Leistungsdruck und Vergnügungsansprüchen geprägten Zeit.
Die Bereitschaft des Einzelnen, zu leiden, ist stark gesunken. Unangenehmes ist negativ und negativ wird mit sinnlosem Leiden gleichgesetzt. Das Leid wird als handfester Mangel empfunden. Als ein Mangel an Zufriedenheit, den es unbedingt, sofort & aktiv zu beheben gilt.
Aber „wir dürfen nicht alle Menschen mit Problemen zu Patienten machen“, bemerkt Psychiater Wolfgang Schneider (12) mit Blick auf die Gruppe der Psychotherapeuten*innen.
„Während früher psychische Störungen eher tabuisiert wurden, weil sie gesellschaftlich nicht akzeptiert waren, gibt es heute eine gegenläufige Tendenz: die Pathologisierung und Medikalisierung alltäglicher menschlicher Leidenszustände. Uns wird suggeriert, dass ein gesunder Mensch immer ausgeglichen, zufrieden und angstfrei sein muss. Das ist aber nicht die Realität menschlicher Existenz.“, warnt Kollegin Elisabeth Wagner (6).
Ursachen von Pathologisierung & Medikalisierung
Wer ist schuld daran, dass wir heute menschliche Befindlichkeiten schnell als behandlungsbedürftiges Leiden verstehen, aber echte psychische Krankheiten oft nicht anerkennen – ja, sogar banalisieren?
Ganz sicher beteiligt daran ist die Pharma-Industrie: Kritiker werfen ihr vor, Motor der Medikalisierung zu sein und durch ein Aufbauschen von Häufigkeiten ein sogenanntes Disease Mongering („Krankheitserfindung“) zu betreiben.
Geistesgrößen wie Michel Foucault oder Niklas Luhmann verbinden Pathologisierung & Medikalisierung deshalb zu Recht mit Macht & sozialer Kontrolle. Beides sind Instrumente, welche den Medizinwissenschaften ein Monopol auf Realität und einen Wahrheitsduktus zusprechen, den sie selbst (im eigentlichen Sinne) nicht vertritt (8,11).
Gleichzeitig ist eine Ökonomisierung der Medizin zu beobachten, deren Akteure immer mehr in eine Kosten-Nutzen-Abrechnung verfallen und soziale Ungleichheiten zementieren: in Deutschland ist Langlebigkeit mit keinem anderen Parameter so eng verknüpft, wie mit der Einkommenshöhe! (13)
Auch das Leistungsprinzip, das von der Arbeitswelt auf andere Lebensbereiche übergegriffen hat, trägt zur Pathologisierung bei. Erschwerend kommt hinzu, dass die Verantwortung für soziale Probleme von der Politik & Gesellschaft auf den Einzelnen abgewälzt werden.
Selbstoptimierung steht dadurch hoch im Kurs, trägt medizinische Problemlösungen in nicht-medizinische Bereiche (z. Bsp. Sport, kosmetische Chirurgie) hinein und fördert so die Pathologisierung & zugleich Stigmatisierung echten Krankheitsleidens.
Auch die Ausweitung von medizinischem (Halb)Wissen & Begriffen in die Gesellschaft und die Alltagswelt trägt zur Pathologisierung bei. Schnell werden Fachbegriffe wie „gestört“, „depressiv“ oder „narzisstisch“ aufgegriffen, in einen nicht-medizinischen Kontext übertragen und im Bedeutungsgehalt verwässert.
Ausblick: Pathologisierung & Medikalisierung
Laut Untersuchungen gilt Gesundheit als höchster persönlicher Wert, der vielen Menschen sehr viel wichtiger ist als Gerechtigkeit oder Frieden. So moralisch aufgeladen, wirkt es, als sei Gesundheit kein Mittel, um ein gutes Leben führen zu können, sondern bereits Zweck & Ziel (11): „Man lebt mit dem Ziel, gesund zu leben – man lebt nicht gesund mit dem Ziel, gut zu leben“ (Hubert Steinke, Medizinhistoriker).
Es stellt sich also die Frage, wie wir uns als Einzelne und als Gesellschaft definieren wollen? Über Gesundheit, Aussehen & Erfolg? Oder über andere Werte, wie zum Beispiel Liebe, Freiheit oder Authentizität?
Quellen:
1) Deutsches Ärzteblatt: Fachgesellschaft warnt vor der Pathologisierung von Lebenskrisen
2) Pharmazeutische Zeitung: Psychotherapeuten warnen vor Pathologisierung
3) Bundesärztekammer: Aktive Bekämpfung der Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
4) R. Crawford: Healthism and the medicalization of everyday life (Studie 1980)
5) Stephan Schleim: Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!
6) Karin Bauer: Psychotherapeutin: „Es sollen keine Verdachtsdiagnosen gestellt werden“
7) Daniel Hell: Über die zunehmende Pathologisierung von Seelenschmerz
8) Arno Görgen: Zwischen Pathologisierung und Enhancement (Aus dem Buch Krankheit in Digitalen Spielen)
9) Gitta Jacob: Gitta Jacob stört: „Wir reparieren immer nur die anderen“
10) Andrea Friedrich: „Wir müssen reden“ – Die Pathologisierung von Angst und Phobie stiftet Schaden
11) Marcus Moser: Die Gesellschaft in der Gesundheitsfalle
12) Jana Hauschild: „Wir dürfen nicht alle Menschen mit Problemen zu Patienten machen“
13) GBE kompakt: Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2/2014)