„Oft fehlt mir der kritische Blick auf die Strukturen, in denen wir leben.“

„Oft fehlt mir der kritische Blick auf die Strukturen, in denen wir leben.“

Ein Gespräch mit Anna* aus Berlin über Ihre Erfahrungen mit Krisen, Recovery und ihre Arbeit als Peer-Beraterin

Hoffnung ist der Beginn von allem – wenn ein Mensch keine Hoffnung auf  eine bessere Zukunft hat, fehlt ihm die Kraft, Dinge anzugehen und zu gestalten. Während einer schweren Krise ist es für viele Betroffene schwierig, die Hoffnung auf ein erfülltes Leben zu bewahren oder neu aufzubauen. Recovery kam in den 1990ern in den USA auf und beruht auf dem festen Willen von engagierten Psychiatrie-Erfahrenen, sich gegen das Stigma von chronischer Erkrankung und deren Unheilbarkeit zu stemmen. Recovery bedeutet, wieder Hoffnung zu haben. Mit dieser positiven inneren Haltung ist es möglich, die Selbstheilungskräfte anzuregen und aktiv Einfluss auf die Gestaltung des eigenen Lebens zu nehmen.

Wie aber funktioniert Recovery in der Praxis? Eine ganze Weile vor der aktuellen Corona-Krise treffen wir Anna in einer Kontakt- und Beratungsstelle in Berlin Kreuzberg. Hier finden junge Menschen in seelischen Krisen Unterstützung dabei, geeignete Hilfe zu finden, Entlastung zu bekommen und ihr Leben wieder selbstbestimmt gestalten zu können. Anna leitet hier eine Recovery-Gruppe, in der sich die Teilnehmenden zum Austausch über seelische Gesundheit, Genesung und Wege zu mehr Lebenszufriedenheit treffen. Die 28-Jährige ist Peer-Beraterin. Das bedeutet: Sie hat selbst Erfahrung mit psychischen Krisen gemacht und hilft heute als Peer (übersetzt so viel wie „Ebenbürtige“) anderen Menschen in schwierigen Lagen. Das klingt nach einer spannenden Aufgabe und wir wollen auf einem Spaziergang  am Landwehrkanal gerne wissen, wie sie dazu gekommen ist.

Anna: „Vor zwei Jahren war „Recovery“ für mich nur ein vager Begriff. In meinem Studium der Sozialen Arbeit hörte ich in einem Referat davon und fand den Ansatz interessant, viel davon blieb mir allerdings nicht in Erinnerung. Im Sommer 2018 ging es mir dann nach einer Trennung psychisch ziemlich schlecht und ich tat einen Schritt, der für mich viel veränderte. Ich vereinbarte beim Studierendenwerk Berlin einen Termin für eine psychosoziale Beratung, griff nach den Möglichkeiten, die ich kannte, um mich zu stabilisieren.

Bei meinem ersten Termin sah ich dann den Flyer der Recovery-Gruppe im Wartebereich der Beratungsstelle hängen. Einige Wochen später besuchte ich dann meine erste Recovery-Gruppe als Teilnehmerin. Mir gefiel der Ansatz und ich fühlte mich in der Gruppe wohl. Die beiden Gruppenleiter*innen luden uns Teilnehmenden dazu ein, bei der Vorbereitung zu helfen. Das Angebot nahm ich an. Wir tauschten uns zum aktuellen Thema aus und überlegten, wie wir die Sitzung gestalten wollten. Ich merkte schnell, dass es mir Spaß macht. Irgendwann erfuhr ich dann, dass es über das Projekt SOUL LALA möglich ist, als Peerberaterin in der Beratungsstelle mitzuarbeiten und ich ergriff die Chance.“

Der Weg zur Peerberaterin

Anna: „Da ich mich oft eher unsicher fühle und im Kontakt mit Menschen manchmal starke Ängste habe, war das eine große Herausforderung für mich. Aber diese Herausforderung war sehr wichtig und richtig für mich, denn als zukünftige Sozialarbeiterin werde ich mit Menschen arbeiten. Die Rolle als „Peerberaterin“ ist neu für mich und gibt mir viele Freiheiten. Das, was ich sonst immer als Schwäche begriff, kann ich nun als Stärke nutzen.

Ich biete im Team mit einer weiteren Person seit ca. 1,5 Jahren immer wieder neue Blöcke der Recovery-Gruppe an. Ein Block beinhaltet meist 6-8 Termine. Für mich bedeutet Recovery vor allem der Glaube an die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Den häufig in dem Kontext genannten Begriff der Genesung mag ich nicht so gerne, da er für mich doch stark mit Krankheit und Gesundheit verknüpft ist. Für viele Menschen ist sehr wichtig, dass ihr psychisches Leiden als Krankheit anerkannt und damit einhergehend ernst genommen wird. Das kann ich gut verstehen. Ich selbst benutze für mich nicht den Begriff „psychisch krank“, denn ich tue mir sehr schwer mit dem, was meiner Meinung nach damit verbunden ist. Ich finde schwierig, dass es oft den Begriff der Krankheit braucht, damit Leid oder Erschöpfung ernst genommen werden, dass anerkannt wird, dass eine Leistung nicht erbracht werden kann. Außerdem individualisiert das Sprechen über Krankheiten meiner Meinung nach Probleme. Ich sehe mich eingebettet in eine Struktur, in eine Lebensgeschichte, die mich geprägt hat und dazu führte, dass ich heute bin wie ich bin. Würde ich mich als psychisch krank definieren hätte ich das Gefühl, ich sei das Problem, weil ich von einer als gesund definierten Norm abweiche. Aber ist es nicht oft genau diese Norm, die Leid verursacht? 

Diese Haltung und vor allem viele damit verbundenen Fragen versuche ich in der Recovery-Gruppe zu transportieren. In was für Strukturen leben wir? Wie können wir mit dem, was uns umgibt und dem, was in uns ist, ein gutes Leben führen? Was können wir in uns aber auch im Außen verändern? Wieso braucht es oft den Krankheitsbegriff, um Hilfe zu bekommen? Wieso ist die Kostenübernahme einer Therapie immer an eine psychiatrische Diagnose geknüpft? Was bedeutet diese Diagnose für mich? Hilft sie mir oder schadet sie mir?“

So wie Anna sehen es viele andere Mitstreitende: Recovery ist eine Einstellungssache und eine Perspektive, die den Blick auf die individuellen Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten schärft – und viele kritischer an althergebrachten Methoden machen. Während die Diagnosen und Therapieformen in der Psychiatrie von Ärzten stammen und oftmals die Bedürfnisse von Betroffenen nur unzureichend berücksichtigen, ist Recovery eine Selbsthilfebewegung derer, die selbst Erfahrung mit Krisen gemacht haben. Patricia Deegan, Mitbegründerin der Recovery-Bewegung sagte dazu einmal: „Individuell  und  kollektiv  haben  wir  es  abgelehnt,  den  Bildern  der  Verzweiflung,  die  so  oft  mit  psychischen  Krankheiten  in  Verbindung  gebracht werden, zu erliegen. Wir sind eine Verschwörung der Hoffnung und stemmen uns gegen die Flut der Unterdrückung, welche seit Jahrhunderten das Erbe derjenigen von uns ist, die als psychisch krank bezeichnet werden. Wir lehnen es ab, Menschen auf ihre Krankheiten zu reduzieren.“

Persönlicher Wandel und ein kritischer Blick auf die Gesellschaft

Anna: „Das emanzipatorische Potential, das ich mit Recovery verbinde, ist für mich sehr wichtig, denn Zufriedenheit und Selbstbestimmung sind nach meiner Ansicht stark mit den gesellschaftlichen Strukturen und damit einhergehenden Möglichkeiten verbunden. Das ist für mich auch eine Kritik, die sich über die Jahre in Bezug auf viele andere psychiatrische/psychologische Angebote entwickelt hat. Oft geht es zwar auch hier um ähnliche Themen wie jene, die wir in der Gruppe behandeln: Ressourcen, Wege zur Zufriedenheit, Verständnis für sich selbst und die durchlebte Krise zu entwickeln. Aber ganz oft fehlt mir der kritische Blick auf die Umwelt, auf die politischen und gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben.

Die Menschen, die die Gruppe besuchen sind in sehr unterschiedlichen Situationen und bringen sehr unterschiedliche Themen mit. Das liegt auch daran, dass wir den Begriff der Krise, den wir auf den Einladungen nutzen, sehr offen verwenden. Ich denke, jeder Mensch erlebt im Laufe des Lebens unterschiedliche Krisen, die unterschiedlich bewältigt werden. Manchmal kann es helfen, sich mit anderen Menschen auszutauschen.

Austausch findet in der Gruppe unterschiedlich statt. Manchmal reden wir, oft kommen verschiedene Methoden zum Einsatz. Dann beschäftigen wir uns zum Beispiel in Einzelarbeit mit Themen wie Scham, Grenzen, Empowerment oder gesellschaftlicher Teilhabe. Manchmal machen wir Übungen im Raum, bilden Kleingruppen, zeichnen, schneiden, kleben. Ich denke, dass oft hilfreich sein kann sich einem Thema, wie zum Beispiel der Scham, in einem geschützten Rahmen anzunähern. Was heißt Scham eigentlich für mich? Hat sie eine Funktion für mich, hilft sie mir sogar manchmal?

Wenn es um Empowerment geht, sage ich gerne „Empowerment bedeutet für mich, mich selbst zu definieren, anstatt von anderen definiert zu werden“. Das ist für mich ein wichtiger Satz und darum geht es mir auch in der Gruppe. Ich versuche einen Raum zu schaffen, in dem Menschen nicht von anderen gesagt bekommen, wer oder was sie sind, sondern dazu angeregt werden, sich selbst zu fragen, wer sie eigentlich sind, was sie brauchen, um mit ihrer Situation einen guten Umgang zu finden.“

So endet unser spannendes Gespräch mit Anna. Derzeit haben aufgrund der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland viele Kontakt- und Beratungsstellen geschlossen und können Gruppenangebote, so wie das von Anna in Berlin-Kreuzberg nicht anbieten. So sehr Recovery Anna geholfen und sie dazu befähigt hat, nun selbst anderen zu helfen, so sehr fehlt vielen Betroffenen derzeit die Möglichkeit, Hilfen vor Ort in Anspruch nehmen zu können. Es ist deshalb wichtig, dass wir kommunikative, digitale Mittel und Wege finden, um Erfahrungsaustausch, persönliche Zuwendung und soziales Miteinander auch in Zeiten der Corona-Krise aufrechterhalten.

 


* Anna heißt eigentlich anders – wir haben den Namen auf ihren Wunsch hin geändert, damit sie anonym bleiben kann.

Fotos: Anja Plonka