Laufend ausgefragt – „Nachhause geschickt wird keiner“

Laufend ausgefragt – „Nachhause geschickt wird keiner“

Für SOUL LALA hat unser Redakteur Andreas Richartz mit der Kölner Diplom-Psychologin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Katrin Heyn über Fragen nach Beginn und Konsequenzen von Therapien, Diagnostiken und Störungsbildern gesprochen. Das Interview erscheint in zwei Teilen.

Frau Heyn, sie arbeiten seit einigen Jahren in einer Kölner kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis, in der sie auch eine private Praxis unterhalten. Haben Sie eigentlich schon mal die Erfahrung gemacht, dass sich ein Jugendlicher direkt an ihre jugendpsychiatrische Praxis gewandt hat, ja regelrecht bei Ihnen geklingelt hat, um einen Behandlungsbedarf anzuzeigen?

Ja klar, im Rahmen meiner Angestelltentätigkeit in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis ist das schon oft vorgekommen: Jugendliche rufen bei uns im Sekretariat zu den Sprechzeiten an und vereinbaren – z.T. auch ohne Wissen ihrer Eltern – einen ersten Termin. Auch im Rahmen meiner privaten Praxis kann so etwas vorkommen.

Das hätte ich ehrlich gesagt gar nicht vermutet. Ist das juristisch – insbesondere bei Jugendlichen unter 18 Jahren – überhaupt möglich oder müssen Sie die nicht gleich wieder nachhause schicken?

Nachhause geschickt wird so schnell gar keiner, rechtlich gibt es da aber ein paar Dinge zu beachten, die mit den juristischen Begriffen „Einwilligungsfähigkeit“ und „Geschäftsfähigkeit“ in Verbindung stehen. Im Prinzip kann ein Jugendlicher, der bei der gesetzlichen Krankenkasse versichert ist, ab 16 Jahre selbst einen Antrag auf Psychotherapie stellen oder in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis Hilfe suchen – auch ohne Mitwirkung bzw. Unterschrift der Eltern. Bei Privat- und über die Beihilfe Versicherten Jugendlichen unter 18 Jahren wird es aber schwierig, da dann die Eltern als Hauptversicherte den Antrag auf Übernahme der Kosten der Psychotherapie/Behandlung unterschreiben müssen. Und bei geschiedenen bzw. getrennt lebenden Eltern, die beide das Sorgerecht haben, müssen eigentlich beide Eltern der Behandlung zustimmen. Und unter 16 Jahre wird’s echt schwieriger… ich bedaure, dass es den jüngeren Jugendlichen da so schwer gemacht wird bei der Therapiebeantragung.

Würden Sie denken, dass Hemmschwellen nicht auch dadurch abzubauen sein könnten, dass Jugendlichen ermöglicht wird, sich direkt an Sie, eine praxisorientierte Fachfrau zu wenden, statt vorher eine gefühlte Schlittschuhfahrt über Allgemeinmediziner, Krankenkassen und natürlich das Gespräch mit den Erziehungsberechtigten hinlegen zu müssen?

In den Praxen von niedergelassenen KollegInnen von mir gibt es durchaus seit der Gesetzesänderung durch die Richtlinienreform 2017 niederschwellige Angebote wie Sprechstunden oder Akutbehandlungen, die noch wenig aufwendig sind. Außerdem gibt es gute Beratungsstellen und Angebote telefonischer Notfallseelsorge sowie SchulpsychologInnen, VertrauenslehrerInnen und Internetadressen zur ersten Sondierung von Themen und Unterstützung.

Es bleibt aber dabei: Möchte man dann nach dem Erstkonstakt eine längere Therapie machen, wird’s wieder komplizierter?

In der Tat: Die Beantragung einer richtigen Psychotherapie ist etwas aufwendiger, das o.g. Altersthema bleibt juristisch etwas kniffelig und es fällt mehr Papierkram an und werden mehr Absprachen nötig. Aber: Die Krankenkassen übernehmen in der Regel ja auch die dann anfallenden Therapiekosten, Allgemeinmediziner können eine eventuelle körperliche Mit-Verursachung von psychischen Symptomen ausschließen oder aufzeigen und die Eltern reagieren sehr oft auch unterstützend und können für den therapeutischen Prozess sehr hilfreich sein. Sie bleiben ja – trotz des eventuell fortgeschrittenen Alters der Jugendlichen – emotional sehr bedeutsam, in welcher Form auch immer.

Was raten Sie einem jugendlichen Menschen, der zwar einen hohen Leidensdruck hat, darüber hinaus aber kein Vertrauen in die „Sphären der Erwachsenenwelt“, schon gar nicht, wenn es um seine seelische Verfassung geht?

Spontan und erstens würde ich sagen: Ruhig erstmal vorsichtig und kritisch bleiben, das Nicht-Vertrauen hat ja sicherlich Gründe. Zweitens: Trotzdem Kontakt zu Fachleuten in Beratungsstellen oder zu TherapeutInnen bzw. Kinder- und JugendpsychiaterInnen suchen und wenn eine Kontaktaufnahme geht, einen guten Freund oder eine Freundin zum ersten Gespräch mitnehmen. Drittens: Es ruhig bei mehreren Experten probieren und dann bei der Person bleiben, die einem klar und sympathisch erscheint und einen – sowie auch das eigene Nicht-Vertrauen – ernst nimmt.

Erzählen Sie mal, wie ein typisches Erstgespräch bei einem/einer TherapeutIn so vor sich geht, wie lange es dauert, was etwa darin besprochen werden kann, etc.?

Ganz allgemein lässt sich sagen: Das Erstgespräch dient zum gegenseitigen Kennenlernen und ersten Erzählen und dauert circa 50 Minuten. Meist stellt sich die Therapeutin/der Therapeut erstmal selbst vor, erzählt vielleicht kurz was zu ihrem/seinem Werdegang (wenn gewünscht) und wie sie/er arbeitet und fragt dann viel. Vor allem natürlich, was den Jugendlichen/die Jugendliche in die Praxis geführt hat, worunter sie/er leidet, was sie/er für Wünsche und Ziele hat, was sie/er gerne verändern möchte. Sowohl bei sich selbst oder in Kontakt mit anderen Menschen. Dabei werden auch viele Fragen zur aktuellen Lebenssituation gestellt, so z.B. zur Schulsituation, Berufsausbildung, Wohnsituation, Familiensituation, Freizeitgestaltung, zu Freunden, zum Tagesablauf usw. Gerne natürlich auch dazu, was gerade gut läuft, wo Stärken oder besondere Interessen liegen – und ob es evtl. Ängste oder Befürchtungen in Bezug auf das Erstgespräch in der Praxis gab.

Im Verlauf weiterer Probestunden schließen sich die gemeinsame Klärung möglicher Therapieziele an, es wird weiter gefragt und erzählt und auch die Voraussetzungen für die Therapie genauer abgeklärt. Manchmal macht man auch im gemeinsamen Einverständnis noch Diagnostik – d.h. man sammelt Informationen mittels Fragebögen oder Testverfahren, um noch besser mögliche Hilfe planen zu können.

Wann ist es eigentlich angezeigt, dass ein oder beide Elternteile mit zur Therapiestunde kommen? Und wann eben nicht?

Da wird sehr individuell geschaut, aber je jünger der Patient/die Patientin, desto wichtiger und intensiver ist in der Regel die Arbeit mit den Eltern. Bei Jugendlichen spielt zwar das Thema Erziehung immer weniger eine Rolle, die reale emotionale Beziehung zwischen ihnen und ihren Eltern allerdings schon. Sinnvoll ist die Arbeit mit Elternteilen immer dann, wenn es Beziehungskonflikte gibt, starke Einflussnahmen der Eltern auf die Problematik der Jugendlichen oder man die Eltern als sogenannte Co-Therapeuten und Unterstützer für die Behandlung braucht. Letzteres kann z.B. bei ADHS, Essstörungen sowie Zwangsstörungen der Fall sein. Dabei müssen nicht immer Jugendliche und Eltern zusammen im Raum anwesend sein. Je nach Thema bietet es sich durchaus an, getrennte Stunden zu machen. Beide Elternteile braucht die Therapeutin/der Therapeut auch dann, wenn sie/er will, dass beide Eltern gleichzeitig die gleiche Information erreicht, verschiedene Sichtweisen der Eltern gegenübergestellt werden sollen und/oder viel Uneinigkeit zwischen den Eltern im Umgang mit ihrem Kind besteht. Ich bevorzuge grundsätzlich die Arbeit mit beiden Eltern gemeinsam, versuche also oft, beide Eltern zur Mitarbeit in der Therapie zu motivieren. Wenn Eltern getrennt leben und/oder zu sehr zerstritten sind, können auch getrennte Elternstunden gemacht werden. Bei Jugendlichen gibt es aber wirklich auch Therapien, die komplett ohne Eltern stattfinden – es kommt halt sehr auf den Einzelfall an, auf die Therapiethemen und natürlich auf die Bereitschaft aller Beteiligter, mitzuarbeiten.

Sie nannten eben das Diagnose-Schlüsselwort unserer Zeit, ADHS. Welche sind denn die häufigsten Störungsbilder, mit denen junge Menschen zu ihnen kommen?

Störungsbilder im Sinne von Diagnosen sind sehr häufig emotionale Probleme im Zusammenhang mit Ängsten oder Stimmungen. Also allgemeine Krisen im Jugendalter oder spezifischere Diagnosen wie z.B. Soziale Ängste, Prüfungsängste, Panikattacken und Depressionen. Auch Zwangsstörungen und Essstörungen kommen häufiger vor. Weiterhin – wie bereits erwähnt – ADHS, Störungen des Sozialverhaltens, selbstverletzendes Verhalten wie auch Verdachtsdiagnosen bzgl. einer möglichen Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen, z.B. Borderline. Mit der Vergabe von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen sollte man im Jugendalter allerdings sehr sehr vorsichtig sein, die Persönlichkeit ist ja noch nicht ausgereift.

Was können denn Auslöser oder auch zusätzliche Themen im Zusammenhang derartiger Krisen und Störungen sein?

Als auslösende oder begleitende Themen mit o.g. Diagnosen treten häufig auf bzw. sind vorher schon lange aufgetreten: Familiäre Schwierigkeiten, Beziehungskrisen, Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen, Leistungsprobleme in der Schule oder Berufsausbildung, Mobbing, teils auch erlebte Traumata, Schwierigkeiten im Umgang mit eigener Homosexualität und ja, sogar Unsicherheiten bzgl. der eigenen Geschlechtsidentität. Aber Achtung: Diese Diagnosen bzw. Themen sind nur Stichworte zum Beschreiben sehr individueller und hoch komplexer einzelner Lebensgeschichten der Jugendlichen. Es ist ein längerer gemeinsamer Prozess, sehr genau herauszuarbeiten, was da im Leben des Einzelnen einen Einfluss auf die Entstehung und auch Aufrechterhaltung der Schwierigkeiten hatte oder noch hat. Ganz wichtig ist auch, herauszufinden, welche Ressourcen bei dem Patienten vorliegen, z.B. welche Stärken eine Persönlichkeit hat und wer unterstützend mitwirken kann in der Therapie. Neben Familienangehörigen können hier – nach Absprache – auch Freunde eine ganz wichtige Rolle spielen und in die Therapiestunde mitkommen.

Zum Thema Mobbing: Haben Sie auch den Eindruck, dass Mobbing in Schulen und Ausbildungsstätten immer mehr zunimmt? Oder ist es nur so – falls es dafür zahlenmäßige Belege gibt – dass immer mehr Jugendliche und Kinder verstehen, dass sie darüber reden dürfen und das dann auch tun?

Das Wort „Mobbing“ ist auf jeden Fall in aller Munde – ist aber nicht zu verwechseln mit einfachem Streit. Beim Mobbing geht es um systematische Schikanen und Beleidigungen durch eine oder mehrere Täter, fast täglich, monate- oder gar jahrelang. Ganz entscheidend ist auch, dass die betroffene Person – das Opfer – sich alleine nicht mehr wehren kann.

Mir liegen gerade keine Forschungsdaten vor, aber mein persönlicher Eindruck ist, dass nicht das Mobbing als Phänomen zugenommen hat, aber sehr wohl die dabei ausgeübte körperliche Gewalt. Und dass nun auch häufiger weibliche Jugendliche Gewalt ausüben. Und ganz sicher bereitet die Möglichkeit, via Smartphone und ganz allgemein im Internet schnell Informationen zu verbreiten und Gruppenbildung zu betreiben, einen gefährlichen Boden, schneller und systematischer – und z.T. leider auch zeitlich länger anhaltend – Gerüchte und Verleumdungen über jemanden zu verbreiten. Stichwort: Cybermobbing.

Ich bin sehr froh, wenn Kinder und Jugendliche wirklich über Mobbing reden, denn trotz aller bisherigen Aufklärung bleibt das Thema sehr scham- und angstbesetzt und die Kinder und Jugendlichen befürchten oft, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn sie mit Erwachsenen darüber reden. Aber da können Therapeutinnen und Therapeuten wirklich gut helfen, beraten und koordinieren. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Schule, Elternhaus und den beteiligten Kindern/Jugendlichen ist selbstverständlich vonnöten.

Zum heißen Eisen Diagnostik: Nicht zuletzt durch Bücher wie das des amerikanischen Psychiaters Allen Frances: „Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ erscheint ein kritisch-sensibler Umgang mit Diagnostiken, die ja auch Festschreibungen für einen ganzen Lebensverlauf bedeuten können, angezeigter denn je. Wie stehen Sie zu dem Widerspruch, dass einerseits immer mehr Inklusion in allen öffentlichen Lebensbereichen gefordert wird, andererseits oftmals wenig sensibel mit dem Thema Stigmatisierung umgegangen wird? Sehen Sie sich als psychologische Spezialistin da nicht in besonderer Verantwortung, was das Thema Testung und Diagnostik betrifft?

Mich gruselt es auch, wenn ich sehe, wie im seit 2013 gültigen DSM-V z.B. normale Trauerreaktionen nun, wenn sie eine zweiwöchige Dauer überschreiten, diagnostisch belegt werden. Das halte ich für aberwitzig! Auch, dass ausgeprägte Trotzphasen schnell überdimensional pathologisiert werden. Ich bin wirklich gespannt, wie das DSM-V auf unser bald erscheinendes, in Europa wirksames ICD 11 abfärben wird. Insofern: Es stimmt, wir Fachleute haben da enorme Verantwortung, was eine Diagnosevergabe angeht. Trotzdem bleiben Diagnosen hilfreich und wichtig bei der Behandlungsplanung und unabdingbar hinsichtlich der Finanzierung durch die Krankenkassen. Im besten Fall wird eine Diagnose auf der Grundlage durchgeführter Tests und beantworteter Fragebögen vergeben. Natürlich in Kombination mit dem Eindruck, den der Klient durch sein Verhalten – verbal und nonverbal – als Persönlichkeit bei mir hinterlässt. Doch wie gesagt: Ich halte es für absolut unerlässlich, achtsam mit Diagnosevergaben umzugehen. Und mir ist es überaus wichtig, mit dem Patienten gemeinsam genau hinzuschauen, wann eine Diagnose zutrifft und wann eben nicht oder – was ja auch vorkommen kann und Anspruch einer jeden Therapie sein sollte – nicht mehr. Das transparente Sprechen über die Diagnosen – auch mit Kindern und deren Eltern, v.a. aber mit den Jugendlichen selbst, gehört zu jeder Therapie unbedingt dazu. Meines Erachtens sollte der Umgang mit einer möglichen Stigmatisierung bzw. Entstigmatisierung ebenfalls immer Teil der Therapie sein.

ENDE von TEIL 1

 


Katrin Heyn hat in Frankfurt am Main und in Heidelberg Psychologie mit klinischem Schwerpunkt studiert und in Köln eine Zusatzausbildung zur Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie am Institut AkiP gemacht. Weiterhin hat sie – noch in Heidelberg – eine Grundausbildung in systemischer Therapie begonnen und weitere Fortbildungen in Schematherapie für Kinder und Jugendliche in Köln absolviert. Sie arbeitet seit 12 Jahren in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis in Köln Deutz und ist als approbierte Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin nun auch seit 4 Jahren in eigener privater Praxis tätig und betreut Privatpatienten wie auch gesetzlich versicherte Patienten über das sog. Kostenerstattungsverfahren.

(Foto: Andreas Richartz)