Laufend ausgefragt: „My five minutes of heaven“ (Teil 1)

Laufend ausgefragt: „My five minutes of heaven“ (Teil 1)

Anja von SOUL LALA hat sich mit der Künstlerin Miriam auf den Weg gemacht zu einem Spaziergang am Wasser – dort, wo Miriam oft Ruhe und Kraft findet. Dies ist das erste Interview aus unserer Reihe „Laufend ausgefragt“, in der wir Menschen zu Wort kommen lassen, die Erfahrungen mit seelischen Krisen gemacht haben.

Anja: Wo sind wir hier und warum hast du dir diesen Ort als Start für unseren Spaziergang ausgesucht – bei Polarkälte und strahlendem Sonnenschein?

Miriam: Wir sind hier an der Ruhr in Stiepel. Ich habe diesen Ort ausgesucht, weil ich hier immer hin gehe, wenn ich depressiv bin. Ich nenne das „my five minutes of heaven” (meine fünf Minuten Himmel).

Anja: Hast du ein Ritual, dass du hier immer machst?

Miriam: Ich gehe an der Ruhr entlang und gucke auf das Wasser. Es gibt hier einen Kanuverein, die so einen Steg haben. Dort setze ich mich drauf. Jetzt gerade sind wir im Trinkwassergewinnungsgebiet. Das find ich verrückt, dass das hier ein Trinkwassergewinnungsgebiet ist – das finde ich sehr hoffnungsvoll.

Anja: Du hast ein inklusives Kunstprojekt in Form des Performance-Kollektivs „dorisdean“ gegründet. Inklusiv deshalb, weil einige Mitglieder des Kollektivs körperbehindert sind und andere nicht. Eine Behinderung ist bei körperlich eingeschränkten Menschen meist ersichtlich, wohingegen seelische Behinderungen unsichtbar bleiben. Hast du dich neben der Thematik der Körperbehinderung auch selbst schon mit dem Thema der seelischen Behinderung oder Erkrankung auseinandergesetzt?

Miriam: Als ich dorisdean zu einem inklusiven Kollektiv gemacht habe, war das ein Symptom für eine Erkenntnis, die ich in dieser Zeit hatte. Meine Parallelwelt, die ich als Mensch mit depressiven Episoden kenne, die man nicht beschreiben kann, die findet sich auch im Leben einer Rollstuhlbenutzerin wieder: Sie ist gleichzeitig sichtbar und unsichtbar. Man sieht zwar mal eine Rolli-Fahrerin im Bus, aber die reale Lebenswelt mit aller Logistik, Einschränkung, den fiesen Kommentaren und Diskriminierungen, das bleibt unsichtbar. Das war für mich ein Schulterschluss. Durch die Sichtbarkeit der Körperbehinderung hatte ich so etwas wie eine Übersetzung, um das auf die Bühne zu bringen. Gleichzeitig war es natürlich auch eigene Verwunderung und Neugier über die Realität, der körperbehinderte Menschen ausgesetzt sind.

Anja: Wurdest du aufgrund deiner Depression schon einmal diskriminiert?

Miriam: Mir ist das in meiner Arbeit passiert. Ich war bei einem Stadttheater festangestellt und ich hatte zu Beginn gesagt, dass ich in der Vergangenheit depressive Episoden hatte, dass ich deshalb und aufgrund meiner Hypersensibilität aufpassen muss und einen Tag in der Woche frei brauche. Ich fand es damals total schlau, das zu sagen. Es wurde erst mal nie wieder besprochen und so dachte ich, dass es auch akzeptiert wurde. Dann wollte mich der Intendant des Theaters als Regisseurin auf freiberuflicher Basis weiterbeschäftigen. Da grätschte dann mein Vorgesetzter rein und meinte, dass das ja nicht geht, weil ich depressiv bin und nie wirklich 100% gearbeitet hätte. Das war natürlich erst mal ein Schock, da ich, wie am Theater üblich, 45 bis 70 Stunden in der Woche gearbeitet hatte. Der hat einfach das Wissen über meine Depression benutzt um mich loszuwerden. Das war sehr schmerzhaft und ungerecht.

Anja: Die gesellschaftliche Akzeptanz für psychische Beeinträchtigungen ist immer noch nicht vorhanden, obwohl es ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Gerade eben habe ich gelesen, dass der Anteil junger Menschen, bei denen psychische Erkrankungen diagnostiziert werden, ansteigt. Würdest du dich selbst „psychisch krank“ nennen?

Miriam: Das ist eine schwierige Frage. Also ja, ich selber würde das schon sagen. Aber ich sage das auch, weil ich selber oft nicht gut mit mir umgehe. Ich sage nicht „psychisch krank“, sondern einfach „krank“. Das ist eher sowas wie “Ich habe schnupfen, ich muss im Bett bleiben, damit es keine Grippe wird.“ Wenn ich merke, es geht in eine Richtung, die krankhaft sein könnte und wo ich lange bräuchte, um auf einen normalen Level von Zufriedenheit und Angstfreiheit zu kommen, dann sage ich über mich selbst: „Vorsicht! Sie haben es mit einer kranken Person zu tun.“ Für mich ist das eine Entlastung, es zu benennen – es ist ja nun mal so. Eigentlich müsste ich schon irgendwann da hinkomme, dass ich sagen kann: „Ich bin nicht krank, ich bin halt so.“ Aber meine Reaktionen sind eben nicht so.

Anja: Leidest du dann unter dir selbst?

Miriam: Das Interessante ist ja die Selbstverurteilung. So wie ich mich selbst behandle, würde ich mich nie trauen, jemand anderen zu behandeln. Obwohl ich auch Phasen habe, in denen ich super-wütend auf andere bin.

Anja: Was stärkt dich? Was macht dich gesund?

Miriam: Aufhören ist ein großer Faktor. Menschen, Orte und Situationen verlassen. In der Phase, in der ich beruflich verleumdet und diskriminiert wurde, da war ich sehr oft hier an der Ruhr. Ich versuche vergebend zu sein, mit mir selber und vor allem anderen. Die Kombination mit der Hypersensibilität für Geräusche, Farben und Licht bringt mich dazu, dass ich mich aus dem Input zurückziehe. Ich sitze sehr viel zu Hause im stillen Wohnzimmer und häkle. Ich gestalte mir meinen Rückzug. Das ist total wichtig. Ich warte eben nicht so lange, bis der Rückzug dann bedeutet, ich muss mich ins Bett legen und weinen, sondern feiere dann diesen Rückzug als Erfolg für mich. In Phasen, in denen ich sehr labil bin in meinem Selbstwert, denke ich oft, dass ich eigentlich anders sein müsste.

So viel für heute. Am Freitag geht es weiter mit Teil 2 des Interviews.

 

 

 

Fotografien: Anja Plonka