22 Aug Community Content #9 – „Bei Mate und Musik“
Ein Student, der anonym bleiben möchte, erzählt von der Eintönigkeit im Online-Studium- und wie er diese durch abendliche Spaziergänge durchbrochen hat. ____________________________________________________________________________
Der Kalender deutete gerade das Ende der Sommersemesterferien 2020 an. Schon jetzt versprach die Uni sich im rein digitalen Sinne zu entwickeln. Folglich stand ich vor der Entscheidung: Im Wohnheim bleiben und weitere Einsamkeit auf 16qm2 riskieren oder wieder zuhause bei der Mutter wohnen? Es wurde Letzteres, auch weil ich die Kleinstadt nach einigen Monaten Abwesenheit vermisste und die Großstadt satthatte. Zu dieser Zeit war ein Großteil der alten Schulfreunde bereits weggezogen, teilweise sogar mit der ganzen Familie. Trotzdem blieb die Hoffnung von Zeit zu Zeit, diese Freunde auf Heimaturlaub wieder zu treffen.
Der Kontakt zu den Leuten aus der Uni war durch die Unsicherheit von Social Distancing aus dem Gleichgewicht geraten und gefühlt komplizierter geworden. Auch weil ich mich mit deren Drogenkonsum nicht wohl fühlte. Vorbei schienen die gemeinsamen Nachmittage in der Mensa. Stattdessen gesellte sich Mister Zoom und Doktor WebEx zum überpräsenten Begleiter Handy. Egal ob mittags die Sonne schien oder der Regen wütete, in beiden Fällen blieb ich drinnen, abgelenkt von einer Mischung aus YouTube-Videos und Unitexten. Gelernt wurde kaum, eher ertragen, was anstand. Schließlich konnte man sein angeeignetes Wissen nicht mehr in ausgedehnten Nachbesprechungen vor dem Seminarraum prüfen. Und dazu verdichtete sich tagsüber ein Gefühl sich zu verschwenden, weil man nichts erlebte. Jeder Zukunftsblick sorgte für Unbehagen. Verantwortlich dafür war die leise Furcht, dass alles in einer Routine versinken würde, die mich schon jetzt unglücklich machte.
An dieser Stelle hatten vor der Pandemie spontane Nachmittagstreffen und lange Abende angesetzt. Die Vorfreude auf Verabredungen hatte gerne durch den Tag geführt, bis die Präsenz einer anderen Person in Momente mündete, in denen man da war. An solchen Tagen war selbst das Handy samt YouTube im Hintergrund verschwunden. Im Gegensatz dazu verließ ich nun kaum noch das Zimmer, da das Wohnzimmer zum Büro meiner Mutter umfunktioniert worden war. Eine echte Umstellung, nachdem ich seit Beginn des Studiums allein in einer Wohnung gewohnt hatte, die kaum mehr als ein multifunktionales Zimmer hatte. Umso länger brauchte das Verhältnis zwischen uns, bevor man sich hin und wieder auf ein Brettspiel verabredete.
So blieb ich im Strudel aus Gedanken und Bildschirmen gefangen. Doch das wandelte sich, nicht nur über Monate hinweg, sondern auch innerhalb des Tages. Sobald der Mond aufgegangen war, berührte mich ein neuer Antrieb. Auf einmal hatte ich die Wohnung für mich, die Mutter war längst ins Bett gegangen. Doch ich nutzte das Wohnzimmer nicht, es zog mich nach draußen, hinaus in die heimische Kleinstadt. Sonderlich kreativ würde ich die Spaziergänge nicht nennen. Es begann bei einem Kiosk mit Mate und führte über die ein oder andere Route zum oftmals selben Ziel. Begleitet wurde der Weg von Spotifys Discover Weekly oder leisem Techno. Manchmal lief auch gut bekannte Musik, besonders wenn der Tag bis dahin anstrengend oder verunsichernd gewesen war. Zu dieser Zeit entdeckte ich auch Podcasts zu Alan Watts, der nicht nur eine beruhigende Stimme, sondern auch eine neue Perspektive auf die Dinge bot. Dazu waren die die leeren Straßen die perfekte Kulisse.
Ganz selten begegnete ich anderen Menschen. So wusste ich, dass ich meinen Zielort für mich haben würde. Wer geht schon um Mitternacht auf die unbeleuchtete Lichtung gegenüber vom Gymnasium? Umgeben von einer Baumwand lag die kleine Wiese scheinbar abgeschottet. Hier dauerte es einige Momente, bis man sich an die Dunkelheit gewöhnte. Oft war es wie ein Schritt eine andere Welt, nicht nur weil das orangene Laternenlicht endete, sondern auch weil dort der Druck keinen Zutritt hatte. Zudem endete an diesem Punkt jeder Podcast, ein einziger Blick aufs Handy und zwei Tipper öffneten eine der richtig guten Musik-Playlists. Danach verschwand der Bildschirm in der Hosentasche und blieb dort auch. Der Blick gehörte nämlich nach oben, zum Nachthimmel, während sich die Ohren der Musik widmeten. Und wie von allein begann man sich zu bewegen, denn hier war niemand. Ich war frei, von den Störgeräuschen wie dem selbstauferlegten Gefühl, die eigene Zeit zu verschwenden. Stattdessen war nun Platz für Ideen und neue Eingebungen. Schließlich war mir nicht nur so, als würde ich etwas erleben, ich erlebte etwas.
Einsamkeit spürte ich dort nie, vielleicht auf dem Hin- und Rückweg. An diesem Ort löste es sich auf, hier konnte ich mir nämlich begegnen und näherkommen, ganz ohne mich schlecht zu fühlen. Ganz im Gegenteil entlud sich Freude.
Irgendwann reichte es mit der Musik und der Mate war geleert, dann ging es zurück. Entweder an den Schreibtisch, um noch etwas aufzuschreiben oder je nach Müdigkeit direkt ins Bett, in der Hoffnung, den nächsten Tag auch so enden zu lassen. Ein Abwarten, bis man auf der Wiese die Anspannung des Tages vergessen konnte. Leider verschwand die erfahrene Freiheit oftmals beim Aufwachen am nächsten Tag, auch wenn ich daran arbeitete sie mitzunehmen. Dafür nahm ich noch mehr von der Lichtung mit, wie zum Beispiel die Inspiration für einige kleine Geschichten, die unabhängig von ihrer Qualität dem Tag eine persönliche Note verliehen und damit die Angst vor der Routine entkräfteten. Außerdem traf ich hier den Entschluss, anstatt in das kleine Wohnheimzimmer zurückzukehren, eine WG mit einem Kommilitonen zu gründen.