07 Jun Community Content #4 – „Nur ein Windstoß “ von Jonas
Unser nächster Community Content kommt von Jonas. Er ist 21 Jahre alt, identifiziert sich als cis männlich und studiert eine Sozialwissenschaft. Vor ca. 1.5 Jahren wurde er mit BPS diagnostiziert und befindet sich seitdem mit Erfolgen in Behandlung.
TRIGGERWARNUNG
Der folgende Text setzt sich subjektiv mit dem Thema “selbstverletzendes Verhalten” auseinander. Er kann damit bestimmte Menschen „triggern“, also schwierige Gefühle, Erinnerungen, Flashbacks oder andere negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist!
Wichtig: Wenn ihr düstere Gedanken habt und euch schlecht fühlt, dann ist es gut, sich hilfe zu holen. Entweder bei Familie und Freunden, oder bei den folgenden Anlaufstellen, die wir euch hier zusammengestellt haben.
Im Dunst der neunten Zigarette erstickte die letzte Hoffnung. In meinem nach Nagellack und Schweiß stinkenden Zimmer krachte ich zurück in die Realität. Zurück auf den Boden der Tatsachen. Jeder meiner Texte wird Schrott sein.
Ich bin der, der schreibt. Oder zumindest ein Teil von ihm – ich bin sein anhaltender fieberartige Tagtraum. 21 Jahre alt und männlich. Ich gehöre zu denen, die zerrissen sind zwischen Liebe und Hass, deren Weltbild mehrmals täglich anlasslos auf den Kopf gestellt wird – Ich leide an der Borderline Persönlichkeitsstörung. Neben verheerenden Stimmungsschwankungen, und selbstzerstörerischen Handlungsweisen ist eines der Hauptsymptome der Borderline-Störung das oft so bezeichnete „Schwarz-Weiß-Denken“. Wir Bordis leben in Extremen, kennen scheinbar nur „vollkommen gut“ und „abgrundtief schlecht“. Die Welt und unsere Mitmenschen werden von uns zu Heiligen erhöht, wenn wir glauben endlich echte Nähe und Zuneigung zu erfahren. Wenn wir fürchten, im Stich gelassen oder verlassen zu werden, verlieren wir jede Gewissheit: Geliebte Menschen werden urplötzlich böse, unangenehmes wird zur unerträglichen Qual. Als Kinder mussten wir lernen, dass Menschen, von deren Liebe wir abhängig waren, eine Gefahr für unser Leben darstellen können. Um diese Ambivalenz zu ertragen, erlernten wir die „Spaltung“, welche sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzt und durch rapid wechselnde Phasen der Idealisierung und Abwertung kennzeichnet.
Was häufig außer Acht gelassen wird, wenn wir über Spaltungsmechanismen in Menschen mit Borderline sprechen, ist der Fakt, dass wir nicht nur unsere Beziehungsobjekte spalten, sondern im ganz großen Stil auch uns Selbst. In einem Moment können wir mit uns völlig im Reinen sein – Wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben, schaffen werden und schaffen können. An die unzähligen Selbstverstümmelungen erinnern nur noch Narben auf unseren Körpern, die wir jetzt nicht einmal versuchen zu verstecken. Wir glauben die unerschöpfliche Quelle der Liebe, und den Weltfrieden in uns selbst gefunden zu haben. Wir malen Blumen in den grauen Himmel, die Welt platzt aus allen Nähten, denn selbst Hässliches leuchtet in den schönsten Farben. Wie konnten wir jemals unglücklich sein, wenn die Welt so paradiesisch ist?
Alles geht vorüber und vielleicht wird es nur ein Windstoß gewesen sein, der uns in tiefen, nichtbremsbaren Selbsthass stürzte. Die Welt wird grausam, plötzlich ist der einzige Zweck des Lebens zu leiden und zu hassen. Was bin ich schon, außer genetischer Sondermüll? Der ICD10 kennt dafür Namen: „unvorhersehbare, launenhafte Stimmung, … instabiles Selbstbild“. Was sich auf dem Papier so banal liest, ist für uns Betroffene unerträglich: Habe ich es verdient glücklich zu sein, oder sollte ich blutig zusammengeschlagen vom Asphalt gekratzt werden? Was muss ich tun, um nicht gehasst zu werden? Es ist ermüdend nicht zu wissen, wer man ist und welche Eigenschaften einen selbst ausmachen.
Besonders gefährdet für emotionale Katastrophen bin ich beim Schreiben von Texten, denn ich konfrontiere mich dabei unausweichlich mit dem, wofür ich mich am meisten fürchte: Meinen Emotionen und Erlebnissen.
An guten Tagen fühle ich mich beflügelt und leicht, wenn ich durch die Straßen laufe. Ich lächle beim Gedanken an meine nächsten Projekte und stelle mir vor, wie ich in einer kleinen Veranstaltungshalle vor einer überschaubaren Gruppe von Menschen sitze und eine Lesung abhalte. Freilich nicht jeder wird meine Texte schätzen und verstehen. Aber macht das nicht einen guten Schreiber aus – Von manchen gehasst, von vielen ignoriert und von wenigen verstanden zu werden?
Ungefähr so startete auch der Morgen des Zusammenbruchs. Am Abend zuvor konnte ich einigermaßen friedlich an einem Text arbeiten. Ich bildete mir ein meine Blockade überwunden zu haben und dachte, dass von nun an alles einfacher werden würde. Schreiben – das heißt loslassen, frei sein und der Rest kommt von allein. Ich mochte mich, als ich mir strahlend die Nägel färbte. Dieses Leben soll niemals enden; ich könnte heut´ die Welt umarm´.
Leichtgläubig griff ich zu meinem Notizbuch, um zu schreiben, denn ich war gierig, vergaß zu essen und rauchte gegen den Hunger. Ich bemerkte es nicht, aber er stand schon hinter mir. Eine Klinge blitzte aus seinem Hosenbund, seine Augen waren blutig rot. Die Kippe war noch nicht zur Hälfte geraucht und der erste Satz nur grob zu seinem Ende gedacht, als er mich zwang den Stift wegzulegen. Schlagartig wurde ich mir meiner Dummheit bewusst. FUCK!
Es war Gerd – mein innerer Kritiker.
Er begann seine Predigt, die ich wie ein Narr kniend über mich ergehen lassen musste:
Diese Zeilen, die du schreibst, sind nichts weiter als unverschämte, kindliche Angriffe gegen die Kunst und den guten Geschmack. Wer ist schon das Bündel Leute, die den Scheiß mögen? Verdammte Lügner! Deine Freunde sind Lügner! Hinterhältige Schweine, die deinen Wahnsinn fördern, um sich über dich zu amüsieren. Wie konntest du daran glauben, dass sie dich wirklich mögen? Wer hat dich denn jemals gemocht? Wie soll einer wie du ehrliche Freunde verdient haben, die dir ungeschönt die Wahrheit ins Gesicht spucken? Du willst die Wahrheit? Deine Texte sind mies. Du bist eine Zumutung!
All diese Abgründe in deinen Texten:
Feuer, Verwesung, Tod und Kotze!
Schreib doch mal über was Schönes!
Du melodramatischer Drecksack, du schreist doch nur nach Aufmerksamkeit!
Und was macht eigentlich dieses Poster von Kurt Cobain dort an der Wand?
Die 90er sind vorbei, Mann!
Apropos Cobain … du weißt, worauf ich hinauswill, oder? 😉
Gerd ist grausam. Aber wahrscheinlich hat er Recht. Ich bin eine Zumutung und nie genug. Ich bin eine faule, melodramatische und anmaßende Drecksau. Schlechte Chancen auf Besserung, aber hey, ich versuche es mal: mit der Schere in meinem Arm.
Danke für den Tipp, Gerd, aber ich komme immer noch nicht klar.
Gerd ist grausam, sagt auch Herby, das unbeteiligte Kind, das am meisten unter Gerds Aggressionen leidet. Er mag Züge und Gänseblumen. Lebenswichtige Entscheidungen wurden grundsätzlich ohne ihn getroffen, seine Meinung war nur wichtig, wenn sie Bestätigung brachte. Es kann nicht sein, dass dieses Kind ständig nur die Fresse halten soll. Ich wünsche mir so sehr, dass er endlich gehört wird.
Weiß Gerd nicht, dass dieses Kind existiert oder ist es ihm einfach egal?
Ein Kind kann kein Kollateralschaden sein, Gerd! Schäm dich!
Ich lag eine Weile regungslos in meinem Zimmer herum, nachdem ich zusammengebrochen war. Dann randalierte ich, schrie herum. Ich schlug mich selbst und ich schlug in meinen Spiegel. Ich war zu schwach, um ihn zu zerstören. Ich riss an meinem Buchregal, aber vergaß, dass es an die Wand geschraubt war.
Dann fiel ich um und blieb regungslos.
Gerd lachte. Er lachte lange und er lachte laut. Vor lauter Lachen merkte nicht, dass Herby hinter ihm erschien. Bevor er ihn sah, roch er ihn, denn Herby müffelt abscheulich!
An diesem Tag war Herby mutiger als ich selbst es je war, denn er erbaute sich vor Gerd und sprach:
„Ich bin es leid dir ausgeliefert zu sein!
Lass mich einen Text schreiben, um dir zu zeigen was du mit deinem Hass anrichtest.
Lass uns zusammen einen Text schreiben.“
„Es wird nicht gut genug sein!“
Des Kritikers Stimme wurde zittrig. Damit hatte er nicht gerechnet.
Das Kind nickte verständnisvoll. Dann entgegnete es kühl:
„Das ist mir egal. Ich versuche nicht mehr, dir zu gefallen.
Mir ist kalt und ich fühle mich allein. Gehe mit Gott, aber geh! Lass mich endlich frei sein.“
Ich traue meinen Sinnen nicht: Gerds Einwände zerliefen unter meinem Schluchzen, während Herby weitersprach. Irgendwann war Gerd verschwunden und ich beschloss:
Ab heute schreibe ich für Herby – um ihn zu befreien.
Denn durch Kunst allein, mag sie noch so melodramatisch sein, kann er der Welt seinen Schmerz mitteilen.
Er braucht mich!
„Darf ich dir bei deinem Text helfen, Junge?“
Herby nahm dankend an.